Unabhängige Hilfe ist unmöglich

„Jeder ‚Westler‘ wird automatisch der Koalition zugeordnet“

VON ERWIN VAN’T LAND

„Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst“, sagt Ibrahim Younis. Am 11. April ermittelte der Arzt den medizinischen Nothilfebedarf in der belagerten Stadt Falludscha. Er hatte bereits viele risikoreiche Situationen im Irak durchgemacht. Doch die Fahrt nach Falludscha beschreibt er heute als das Beunruhigendste, was er je erlebte.

Der Einsatz im April war sein vierter im Land. Younis, Mitarbeiter des Notfall-Teams von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), kam Ende 2003 zum ersten Mal nach Bagdad und war während der gesamten Zeit der Bombardements durch das amerikanische Militär vor Ort. Er wurde von irakischen Sicherheitseinheiten verhaftet und verbrachte zwei Wochen im Gefängnis. Er hat viel gesehen. Dennoch, nichts sei schlimmer gewesen als die Fahrt nach Falludscha mit einem US-Militärkonvoi. „Die Koalitionstruppen sind die Zielscheibe irakischer Rebellen“, erklärt Ibrahim Younis nach seiner Rückkehr in Brüssel.

Das große öffentliche Krankenhaus in Falludscha war seit der Übernahme des Komplexes durch die Koalitionsstreitkräfte nicht funktionsfähig. Die medizinischen Mitarbeiter hatten vor Ort ein spärlich ausgestattetes Feldlazarett errichtet. Als die Organisation Roter Halbmond einen humanitären Konvoi zur Unterstützung Falludschas ausgehandelt hatte, steuerte Ärzte ohne Grenzen 1,5 Tonnen Notfall-Medikamente und chirurgisches Material bei. Es war jedoch darüber hinaus auch nötig, dass ein Mitarbeiter sich in der Stadt umschaute, um die medizinischen Bedürfnisse festzustellen und zu prüfen, ob es möglich sei, noch mehr Unterstützung und Hilfe zu leisten.

Younis schloss sich also einem Konvoi des Roten Halbmonds an, denn diese Organisation ist die einzige, die von allen Beteiligten des Konflikts akzeptiert wird. Bekleidet mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Ärzte ohne Grenzen“, um klarzustellen, wen er repräsentiert, stieg er in eines der Fahrzeuge. Circa vierzig Minuten von seinem Ziel Falludscha entfernt kamen die beiden Wagen zu einem Abschnitt, an dem sie gezwungen waren, den Schutz von US-Soldaten anzunehmen. „Die Straße war gepflastert mit den Autowracks des Militärs, die auf Minen gefahren oder von Panzerabwehrgranaten getroffen worden waren. Die Amerikaner sagten, sie müssten uns begleiten, da sich viele Kämpfer in dieser Gegend aufhielten. Doch ich hätte mich ohne amerikanisches Geleit weitaus sicherer gefühlt.“

Der vermeintliche Schutz durch die Soldaten war für Ibrahim Younis ein Albtraum. Nicht nur, weil er so die Aufmerksamkeit von Heckenschützen auf sich zog. Unermüdlich hat der Arzt im vergangenen Jahr versucht, irakischen Führern die Unabhängigkeit von MSF zu erklären, um so die Risiken für seine Mitarbeiter zu minimieren. Und nun musste er sich sechs Kilometer lang von den Humphees der Amerikaner eskortieren lassen. Sechs Kilometer, auf denen Younis zum beweglichen Ziel wurde.

In den vier Stunden, die er in der Stadt selbst verbrachte, fühlte sich Ibrahim Younis sicherer. Obwohl die Stimmung angespannt war, wurden sie wegen des Respekts vor dem Roten Halbmond freundlich im Feldlazarett empfangen und erhielten dort wichtige Sicherheitshinweise. Sie dürften nicht alleine auf die Straße, erklärte man ihnen, da überall in den Hauptstraßen Heckenschützen lauerten. Es war Younis nicht möglich, das öffentliche Krankenhaus selbst zu sehen.

„Für mich ist es völlig inakzeptabel, Krankenhäuser zu militarisieren“, kritisiert Younis die Truppenpräsenz in medizinischen Einrichtungen. „Krankenhäuser sollten als neutrales Territorium von allen Konfliktbeteiligten respektiert werden. Andernfalls kann es passieren, dass kranke und verletzte Zivilisten sich nicht behandeln lassen; in erster Linie aus Angst, sich in einem Krankenhauskomplex aufzuhalten. Aus unterschiedlichen Quellen hören wir, dass Soldaten in die Krankenhäuser kamen und mutmaßliche Gegner dort aus ihren Betten zerrten. Das haben wir zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, doch sollte daran etwas wahr sein, so ist dies ein grober Verstoß gegen die Neutralität medizinischer Einrichtungen.“

Im improvisierten Feldlazarett leiste das medizinische Team jedoch eine bemerkenswerte Arbeit, berichtet Younis. Dort versorge man die Verletzten fast ohne medizinische Ausstattung in zwei kleinen Räumen, die zum provisorischen Operationssaal umfunktioniert wurden. Younis sah während seines Aufenthaltes etwa zehn Verletzte. MSF hofft jetzt, Material für einen weiteren Operationssaal bereitstellen zu können, um dadurch die Kapazitäten für die Versorgung der Verwundeten zu erhöhen. Leider kam Younis zu dem Schluss, dass die Arbeit mit einem internationalen Team in Falludscha zurzeit absolut unverantwortlich sei.

Einige Kilometer außerhalb der Stadt hatte der Rote Halbmond geplant, ein Flüchtlingslager für Familien zu errichten, die vor der Belagerung Falludschas geflohen sind. Das Lager, das direkt an einem Fluss liegen sollte, der die Wasserversorgung garantiert, hätte ausreichend Platz für etwa 200 bis 300 Familien geboten. Doch schon am zweiten Tag näherten sich die amerikanischen Truppen bis auf wenige Kilometer, wodurch es zum unsicheren Aufenthaltsort für die geflohenen Zivilisten wurde. Ähnliches geschah in einer Einrichtung weiter unten am Fluss: Kaum hatte der Rote Halbmond begonnen, die Zelte aufzubauen, gerieten sie unter Beschuss.

Die Situation im Irak stellt unabhängige Helfer immer wieder vor große Hürden. Das weiß Younis auch von seinen anderen Einsätzen zu berichten. In den drei Gesundheitszentren der Hilfsorganisation in Sadr City, einem Randbezirk Bagdads, geht die Arbeit mit durchschnittlich 3.000 Konsultationen pro Woche und der praktischen Unterstützung des Zentralkrankenhauses weiter. Doch die internationalen Mitarbeiter von MSF haben sich vorübergehend in die jordanische Hauptstadt Amman zurückgezogen.

Bei Younis’ letztem Aufenthalt dort zählte insbesondere die Überprüfung der Sicherheitsrisiken zu seinen Aufgaben. In einer Zeit, in der zahlreiche Ausländer entführt werden und die Mitarbeiter der Koalition von echten Zivilisten immer weniger zu unterscheiden sind, war das Risiko, im Land zu bleiben, kaum noch vertretbar. Ungefähr einhundert irakische Ärzte der Hilfsorganisation setzen die Arbeit fort, mit aktiver Unterstützung aus Amman und Brüssel.

Die dringendste Aufgabe von Younis war die Lieferung neuer Hilfsgüter nach Bagdad. „Unsere Lagerbestände minimierten sich. Seitdem die Kämpfe heftiger geführt wurden – insbesondere in einigen Teilen Bagdads und Falludschas – haben wir Hilfsgüter an die Krankenhäuser und das Gesundheitsministerium gespendet. Unsere Ladung mit medizinischen Materialien und proteinhaltigen Keksen erreichte den Bagdader Flughafen, doch niemand wollte sie weitertransportieren, da die Konvois auf dem Weg zum Ziel regelmäßig angegriffen wurden. Am Ende schafften wir es jedoch, sie sicher in unser Lager zu bringen. Doch die Schwierigkeiten dieser humanitären Transporte zeigen, wie komplex die Situation im heutigen Irak geworden ist und wie schwierig es ist, sinnvolle Hilfe zu leisten.“

„Ich hätte mich ohne amerikanisches Geleit weitaus sicherer gefühlt“

Als Younis nur wenige Wochen nach seinem vorherigen Aufenthalt wieder in Bagdad ankam, fiel ihm sofort auf, wie sich die Dinge inzwischen verändert hatten. Das Fehlen der Truppen in den Straßen bemerkte er schon in den ersten Tagen; sie übernachteten in eigenen Unterkünften und überließen die allgemeine Sicherheit den armselig ausgebildeten irakischen Polizeikräften. Die Stimmung in der Stadt war weitaus angespannter und gewaltbereiter geworden. Der Verwalter eines Friedhofs erzählte Ibrahim Younis, dass er inzwischen ungefähr 16 Beerdigungen täglich vornimmt; und die meisten, wenn nicht alle Verstorbenen seien Opfer der Kämpfe.

Niemand kann von sich behaupten, einen Überblick über die gesamte Misere der irakischen Zivilbevölkerung zu haben. Das Sicherheitsrisiko ist zu groß für Helfer, Menschenrechtsforscher und Journalisten, um unabhängige und umfassende Evaluierungen durchzuführen. Younis betont die Rolle der Koalitionsstreitkräfte in diesem Klima der Ungewissheit: „Eine ganze Reihe von Ereignissen macht es schier unmöglich, im Irak unabhängig zu arbeiten. Solange Soldaten in Fahrzeugen herumfahren, die aussehen wie die der Hilfsorganisationen, sind auch Letzere verdächtig. Dann gibt es erzwungene Militärbegleitungen, wie ich sie auf meinem Weg nach Falludscha erlebt habe. Und eingebettete NGOs, die es vorziehen, immer von Soldaten begleitet zu werden.“ Sein Fazit: „So sehr wir uns bemühen, wir sind nicht in der Lage, unsere Unabhängigkeit von den kämpfenden Parteien zu zeigen. Jeder ‚Westler‘ wird automatisch der Koalition zugeordnet.“

Dieses Durcheinander ist einer der Hauptgründe, warum der Irak für Mitarbeiter der Hilfsorganisationen zu unsicher geworden ist. Schließlich ist es die Zivilbevölkerung im Irak, die die Konsequenzen des andauernden Kriegs zu tragen hat, und insbesondere die fehlende Unterstützung in einer Zeit, wo sie am dringendsten benötigt wird.

Der Autor ist Pressesprecher von MSF in Brüssel

Deutsch von Ute Eggert