desensibilisierung. ein selbstversuch von WIGLAF DROSTE
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Desensibilisierung ist das Zauberwort für Allergiker: Eine dicke Spritze in den Pöter gerammt oder ein paar kinderkopfgroße Tabletten weggefuttert, und der Frühling, der Milliarden Blütenpollen durch die lauen Lüfte flattern lässt, verliert seinen Schrecken. Wer rotäugig, triefnasig und mit Asthma-Attacken auf den Bronchien durch die Jahreszeit der Verliebten torkelt, will nur noch eins: die chemische Keule, die ihn unempfindlich macht.

Als Kind wurde ich im Winter an die Ostsee getan, „zur Abhärtung“, wie das hieß, zur Stärkung von Atemweg und Abwehrkraft. Das war gut, doch unzulänglich. Gegen anderes, weit ärgeres Grauen wurde ich nicht imprägniert. Dass eine heiße Herdplatte AUA! macht, lernt das wissbegierige Kind nicht durch elterliche Warnung, sondern durch Dranlangen. Das tut einmal weh, dann hat man es für immer begriffen. Niemand und nichts aber bereitete mich vor auf Begegnungen mit Jürgen Fliege und Daniel Küblböck, mit Johannes B. Kerner und Michele Hunziker. Schutzlos wie ein Robbenbaby bin ich ihnen und tausenden ihnen gleichenden Lemuren ausgesetzt.

Jahre ohne eigenen Fernsehapparat hatten meine Überempfindlichkeit gegen medialen Schwamm und Schlamm noch verstärkt. Bei Freunden eingeladen, die sich zu einem wunderbaren Essen um den Brüllwürfel versammelten und unter lauter Anteilnahme „Star Duell“ auf RTL wegkuckten, sackte ich zusammen. Meine Trommelfelle kollabierten. „So geht das mit dir nicht weiter“, sagte mein Gastgeber besorgt. „Du musst dich dringend mal desensibilisieren. Du hältst ja nicht mal zehn Minuten Kinderfernsehen aus.“ Und fügte leicht vorwurfsvoll hinzu: „Das ist doch lustig. Die sind alle vollkommen krank, das macht doch Spaß!“

Für mich war es quälende Ohrenpein, akustisches Frittenfett, Gestank in Auge und Ohr. Ich merkte, mir drohte das soziale Aus. Wenn ich nicht völlig vereinsamen oder mein Leben nur noch mit sex- und humorfreien Waldorfpädagogen fristen wollte, musste ich mich zusammenreißen. Und lernen, medialen Unflat nicht nur in mich hineinzustopfen, sondern das auch schön zu finden, und zwar ohne Schmu und Pfuschen. Ich musste es ehrlich genießen. Aber wie?

Genieß es! Genieß es!, hämmerte ich mir in meinen Kopf. Es nützte nichts – ich genoss den Anblick Franz Beckenbauers so wenig wie das, was aus Reinhold Beckmanns Mund herausrinnsalte. Ein Freund empfahl mir die Lektüre der Kraft-durch-Freude-Zeitschriften Merkur und Men’s Health. „Wenn du das schmerzfrei lesen kannst, hast du es geschafft“, versprach er. Ich versuchte es und tauchte ein in jene Welt, in der das Hauptproblem ein arbeitender menschlicher Kopf ist – der zum Glück aber wegtrainiert werden kann. Doch die Idiosynkrasie blieb.

Am Ende half mir ein welterfahrener Psychologe. Seinen Rat nahm ich an – und ziehe mir morgens nach dem Aufwachen gleich ordentlich ein paar mit dem guten, alten Gummihammer über die Rübe. Das tut zwar weh, ist aber kein Vergleich mit den Schmerzen, die ich vorher fühlte. Mein gesellschaftliches Leben hat sich stark verbessert, die Menschen mögen mich. Wir sind jetzt einer von uns.