Ungarn: zivilisiert-wild

Die Ungarn sind gern Ungarn. Noch mehr als das sind sie Pragmatiker. Viele Ungarn hegen ernsthafte Zweifel, ob die EU ihrem Land wirklich gut tut. Beim Referendum haben die meisten trotzdem für die EU gestimmt.

Dabei hat Ungarn in seiner Geschichte nicht gerade Glück gehabt mit Europa. So nahmen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges den Ungarn zwei Drittel ihres Staatsgebietes weg und verteilten es an die Nachbarländer.

Inzwischen sind die zehn Millionen Ungarn-Ungarn froh, dass sie ihre Landsleute nicht am Hals haben. Die ungarischen Kommunisten richteten ihrem Volk die „lustigste Baracke des Ostblocks“ ein. Ein bisschen Reise-, Konsum- und private Meckerfreiheit im Tausch gegen das große öffentliche Schweigen. Am Ende glaubten die ungarischen Kommunisten selbst nicht mehr an ihr System und öffneten den Eisernen Vorhang. Das war der Anfang vom gemeinsamen Europa.

Heute sitzen Exkommunisten und Spitzel der Staatssicherheit mit ehemaligen Bürgerrechtlern in einer Regierung. Auf Verlangen bekommen Touristen zivilisiert-wilde Pußtaromantik geboten und das kreuzfidel-melodramatische Fiedeln der Kaffeehaus-Zigeuner. Ungarn ist eine hoch entwickelte Dienstleistungsgesellschaft.

Die Ungarn sind immer ein wenig melancholisch, auch wenn sie lachen. Ihre Sprache ist schwierig und steckt voll altmodischer Höflichkeitsfloskeln. Die Ungarn haben eine traurige Nationalhymne. Es ist die einzige Europas, zu der man auch beim besten Willen nicht marschieren kann. KV