Bratwurst gegen die Angst

„Wir sind schon in Tschechien“, sagt Eva Březíková. „Es ist ein ganz neues Empfinden“, sagt Gudrun Laufer. „Wirklich, ein neues Empfinden“

AUS ZITTAU FRIEDERIKE GRÄFF

Am Nachmittag des 30. April gehen die Europa-Zwillinge nach Tschechien. Es dauert nur drei Minuten und fast hätten sie es nicht gemerkt. „Wir sind schon in Tschechien“, sagt Eva Březíková plötzlich. „Es ist ein ganz neues Empfinden“, sagt Gudrun Laufer, „es ist wirklich ein neues Empfinden.“ An der kleinen Brücke über die Neiße steht ein Obelisk: „Hier wächst Europa zusammen“ steht darauf, auf Deutsch, Tschechisch und Polnisch, und ein Datum: 1. 5. 2004.

Der Obelisk verbreitet ein bisschen historisches Gefühl, soweit sich das nachmittags zwischen Zelten und Bierbuden halten kann. Vielleicht warten Gudrun Laufer und Eva Březíková seit 36 Jahren auf diesen Nachmittag. Seit dem Tag, als der Staatsbürgerkunde-Lehrer Gudrun Laufer verboten hat, zu erzählen, was sie 1968 auf dem Wenzelsplatz in Prag gesehen hat. Seit dem Tag, als Evas Vater seiner Tochter schrieb, dass sie heimkommen soll aus Frankfurt am Main, weil man nicht weiß, was aus dem wird, was auf dem Wenzelsplatz begonnen hat.

Auf den zwanzig Metern zwischen Tschechien und Deutschland fragt eine Radioreporterin Eva Březíková: „Was ändert sich für Sie mit der EU-Erweiterung?“ – „Nichts wird sich ändern“, sagt Eva Březíková freundlich. Was soll schon zusammenwachsen, wenn man bereits EU-Zwilling ist?

„Zwillinge der Euroregion“, das hat eine Zeitung über die beiden Frauen geschrieben und die Leute im Dreiländereck haben es übernommen. Weil sie sich ähnlich sehen, mütterlich vom Typ, Mitte fünfzig. Weil beide bei der Handelskammer arbeiten, Eva Březíková in Liberec, Gudrun Laufer in Zittau. Weil sie dasselbe Ziel haben: Unternehmer zusammenzubringen, deutsche und tschechische, damit sie die Angst voreinander überwinden und vielleicht auch die Arbeitslosigkeit.

„Hier sind Politiker und Rentner unter sich“, sagt Gudrun Laufer und guckt auf die Besucher. Voll ist es nicht zwischen den paar Buden und den Zelten, wo die Menschen aus dem Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien die EU-Erweiterung feiern sollen. Auf der deutschen Seite steht die Bühne mit den Großbildschirmen und am Hang daneben sammeln sich die Übertragungswagen der Fernsehsender. Man wartet auf den Abend, auf den Empfang der sächsischen Landesregierung, auf Helmut Kohl.

Die Europa-Zwillinge haben einen schwarzen Hosenanzug für ihn angezogen. „Sie sehen alle aus, als ob sie zu einer Beerdigung gingen“, murrt eine Frau in Lila, als sie die Gäste vor dem Festzelt sieht. Vielleicht murrt sie auch wegen der Absperrung aus grünem Plastik. Drinnen trifft Eva Březíková zwei tschechische Unternehmer, Petr Louda und Petr Poborský. „Im Volk weiß niemand, was die Erweiterung bedeuten wird. Sie wissen aber, was in den neuen Bundesländern passiert ist“, sagt Louda. Poborský ist optimistischer, auf jeden Fall lyrischer. „Es ist heute für Europa so, als würde Kolumbus Amerika entdecken, damals hat man auch nicht gewusst, was passieren wird“, sagt er. „Aber es wird süße Frucht tragen.“ Dann stehen die Gäste auf und klatschen, Helmut Kohl ist ins Zelt gekommen.

Zwei blonde Mädchen gehen auf die Bühne – die Jugend, von der heute alle Politiker sprechen. „Wir junge Menschen sind Samenkörner Europas, die bald in Blüte stehen werden“, sagt die Polin. Dann kommt auch schon Helmut Kohl im grauen Anzug, er spricht ein bisschen undeutlich, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus Rührung. „Ich sage es nicht aus Courteoisie, dies ist ein großer Abend“, beginnt er. „Nie wieder soll es in Europa neue Soldatengräber geben.“ Die Leute klatschen. Dann spricht er für die neuen Beitrittsländer, für ihr Recht auf eigene Identität, und Petr Louda lacht kurz auf. Dann spricht Kohl von den eigenen Verdiensten und das ist die Stelle, an der Eva Březíková kurz einnickt. „Es ist nicht nur eine Stern-, sondern eine Glücksstunde“, schließt Helmut Kohl und die Leute stehen wieder auf, vielleicht gerührt, sicherlich begierig, bewegt zu sein.

Petr Louda ist auf jeden Fall bewegt. „Das war eine Flamme, die das Licht anzündet, wie eine Stafette, die weitergeht“, sagt er auf dem Weg zu Büfett mit den dreisprachigen Beschriftungen. Über dem Essen wird die Eingangskontrolle vergessen, so dass allmählich das Volk hereinströmt. „Das ist eine geschlossene Veranstaltung“, zischt eine Frau im dunklen Jackett und sperrt zu.

Das ist nicht das einzige Missverständnis an diesem feierlichen Tag. An der Brücke nach Polen stehen ein paar polnische Mädchen in engen Jeans vor einem deutschen Soldaten. „Hast du ein Mädchen?“, fragen sie. „Sie hat Kinder“, sagt eine und zeigt auf die andere. „Wie alt?“, fragt der Soldat. „Acht.“ – „Acht?“ fragt der Soldat, das Mädchen ist sehr jung. „Acht Monate“, sagt das Mädchen. „War es ein Unfall?“, fragt der Soldat. „Ein Junge“, sagen die Mädchen. „Das meine ich nicht“, hakt er nach. „Nicht sprechen Polnisch, scheiße“, sagen die Mädchen und gehen weiter.

Die Leute drängeln sich jetzt auf den Wiesen, die ersten Männer schwanken, die Menschen gehen über die Brücken wie Kinder auf neue Spielplatzgerüste, freudig und ein bisschen erstaunt. Um Mitternacht beginnt das Feuerwerk, blau und golden, der ganze Himmel ist voller Funken. Vier Minuten dauert es, dann strömen die Leute nach Hause.

Am Samstagmorgen scheint es dann fast so, als sie die Feierstimmung einem Kater gewichen. Gudrun Laufer und Eva Březíková sprechen beim Frühstück über die Beneš-Dekrete. „Viele Deutsche fragen sich, warum er ausgerechnet jetzt geehrt werden soll“, sagt Gudrun Laufer. „Die Leute haben Angst, aufgekauft zu werden. Da kommt der Regierung so etwas zupass“, meint Eva Březíková. „Aber die Deutschen werden doch gar nicht kommen“, sagt Laufer.

Um zwölf sollen die Ministerpräsidenten gemeinsam über die Grenzbrücken am Dreiländereck gehen, aber die „Europa-Zwillinge“ gehen lieber zum Volksfest in die Innenstadt. Deshalb verpassen sie die jungen Frauen in knappen Oberteilen, die an der Brücke Broschüren verteilen: „Die EU-Osterweiterung: zehn Vorteile für Deutschland“ heißt die Überschrift, darunter ist eine Grafik zu den neuen Absatzmärkten.

Auf Großbildschirmen neben der Bühne kann man derweil verfolgen, wie ein Tross mit Schröder, Špidla und Miller über die Brücken geht. „Sie alle können sagen, dass Sie dabei gewesen sind“, beschwört die Moderatorin, dann hört man Norah Jones, „You’ll be on my side“, während Schröder ein sorbisches Mädchen küsst. „Ich glaube, das macht er gern“, sagt die Moderatorin. Die Staatsmänner hissen gemeinsam die Europafahne und die Dame auf der Bühne fordert „einen riesendicken Beifall, bitte“. Die Leute klatschen nur mäßig. Europhorische Stimmung will sich auch dann nicht recht einstellen, als die Reden der Staatsmänner verklungen sind. Man weiß nicht, ob es etwas geändert hätte, wenn sie übersetzt worden wären.

„Danke, dass Sie bei uns waren“, sagt die Moderatorin, ein Jazzorchester beginnt zu spielen, doch die Leute wollen nicht zuhören, sie stellen sich an den Buden an, es gibt Szegediner Gulasch und polnische Kartoffelsuppe. Die Deutschen bevorzugen Bratwurst.