Wer Geld hat, zieht aus dem Elfgeschosser ins Umland

Im Sozialstrukturatlas gehört die Marzahner Havemannstraße zu den großen Absteigern. Mit kleineren Plattenbauten soll es wieder aufwärts gehen

Man kann es niemandem übel nehmen, der in dieser Gegend den einen Kilometer von der Haustür bis zum Lidl-Markt mit dem Auto fährt: Wo die Umgebung so wenig Stimulierendes für das Auge bereithält, wird auch der kürzeste Fußweg lang. An der schnurgeraden Havemannstraße in Marzahn stehen Plattenbauten in verschiedenen Höhen und Farben, dazwischen lockern Parkplätze, ein paar Rasenflächen und Bäume die Ödnis ein wenig auf.

Laut Sozialatlas hat sich in keinem Bezirk Berlins die soziale Lage so dramatisch verschlechtert wie in Marzahn. Die Havemannstraße stürzte innerhalb von sechs Jahren in der Kiezstatistik von Platz 180 auf 259. Gutverdienende flohen aus der Platte ins Umland. Dafür zogen vor allem russische Spätaussiedler nach. Deren Anteil wird inzwischen auf 15 Prozent geschätzt.

Das Ehepaar Meyer kann sich kein Auto leisten. Sie gehen zu Fuß zum Supermarkt. Auf halber Strecke machen die beiden Pause auf einer Holzbank, denn Frau Meyer hat Beschwerden in den Beinen. Nach der Wende haben beide ihre Arbeit verloren. „Mal in den Tierpark, eine Dampferfahrt oder meine Schwester besuchen in der Greifswalder Straße, das kann ich mir gar nicht mehr leisten“, sagt Frau Meyer. Inzwischen ist das Paar über 50, die Chancen, dass sie noch einmal einen Job finden, sind gering. Mehr als 19 Prozent der Bewohner sind hier arbeitslos, rund 14 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen. „Manch einer springt aus dem Fenster, andere gehen klauen oder saufen. Das ist mir Gott sei Dank noch nicht passiert“, sagt Frau Meyer.

1986 kam das Paar aus Prenzlauer Berg nach Marzahn. In einem Elfstöcker wurde ihnen eine moderne Wohnung mit Innentoilette zugewiesen. Herr Meyer arbeitete als Hausmeister, man kannte sich im Haus. „Früher haben wir mit den Nachbarn auf den Treppen gesessen und gequatscht. Jetzt bleibt jeder für sich.“ Auch die Meyers bleiben zu Hause. Vor allem, wenn es dunkel wird. Nach 20 Uhr trauen sie sich nicht mehr auf die Straße: „Man weiß ja nicht, was dann los ist.“ Herr Meyer erzählt, dass er und sein Sohn einmal von jungen Russlanddeutschen bedroht wurden. Seitdem ist er nicht gut auf „die Russen“ zu sprechen.

„Meistens sitzen wir auf unserem Balkon“, sagt Frau Meyer. Die Balkone sind kleine Oasen. Bunt angemalt, geziert von Geranien, Holzverkleidungen und kleinen Gartenzaunimitationen, geschützt und behütet durch Markisen und Sonnenschirme. Dabei liegt hier die Natur direkt vor der Tür. Hinter den Plattenbauten beginnen Wiesen und Wälder. Erst vor 25 Jahren wurde Ahrensfelde-Süd auf offenem Feld angelegt.

Seit Januar stören Schlaghämmer und Bagger die Ruhe. „Ein Stadtteil auf dem Weg – kommen Sie mit!“ wirbt ein Plakat der Quartiersagentur. Die elfstöckigen Hochhäuser werden abgetragen auf drei bis fünf Stockwerke. Baukräne legen Platte für Platte die Wohnungen im Baukastenprinzip wieder frei. Aus 1.670 Wohneinheiten werden 409, Dachterrassen entstehen. So soll der Leerstand in den Plattenbauten bekämpft und die Gegend wieder attraktiver werden.

Alle hoffen nun auf die neuen Mieter. „Die Fluktuation ist sehr hoch. Wir werden sehen, wie der nächste Sozialstrukturatlas ausfällt“, sagt die Marzahner Sozialplanerin Marion Augustin.

Auch Fani Sidiropoulou hofft, dass wieder zahlungskräftigere Mieter in der Nachbarschaft einziehen. Seit zwei Jahren führt sie das griechische Restaurant in der neu errichteten Einkaufpassage. „In dieser Zeit habe ich mindestens 30 Stammgäste verloren, weil sie wegggezogen sind.“ Und wer hier bleibt, kann es sich nicht leisten, regelmäßig essen zu gehen. „Das ist wie ein Friedhof hier“, sagt die 34-Jährige und zählt die Restaurants auf, die in den letzten zwei Jahren zumachen mussten. Dennoch lebt die Griechin gerne hier. „Meinem Mann gefällt es in Prenzlauer Berg, aber mir ist es da viel zu eng und zu viele Leute. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, treffe ich bestimmt zehn Bekannte, denen ich ‚Hallo‘ sage. Das ist wie in meinem Dorf in Griechenland.“ WIBKE BERGEMANN