christoph schultheis
: Der Nschlfernseh-Reflex

Vornübergebeugt sitzen wir vorm Bildschirm und runzeln die Stirn: „Hä?“

Kennen Sie Siebs? 1898 veröffentlichte der damals 34-jährige Germanistikprofessor Theodor Friedrich Clemens Siebs erstmals sein wohl bedeutendstes Werk. „Deutsche Bühnenaussprache“ hieß es, ab 1922 sogar mit dem Zusatz „Hochsprache“, und mittlerweile, nach zahllosen Aktualisierungen, sogar schlicht „Deutsche Aussprache“.

Man könnte noch weiter ausholen. (Angeblich wurde bereits seit dem 16. Jahrhundert an einer geregelten deutschen Hochsprache gearbeitet.) Doch eigentlich langt’s: So wie der Rechtschreib-Duden waren Siebs’ Ausspracheregeln lange Zeit ein Standardwerk – „maßgebend in allen Zweifelsfällen“ quasi. Denken Sie nur an die guten alten O-Töne von Thomas Mann (oder, wenn’s sein muss, an Oddolf Hüttlerrr), dann wissen Sie, was gemeint ist. Schließlich war Siebs der Ansicht, dass „jede öffentliche Rede einer gepflegten Aussprache und bestimmter Regeln bedarf; Vorträge von Lehrern in Klassen genauso wie Predigten von der Kanzel oder Reportagen und Radiohörspiele“. Und wäre Siebs nicht 1941 gestorben, er hätte in dem zitierten Satz bestimmt noch das „Fernsehen“ untergebracht, oder nicht? Wer wollte ihm auch widersprechen? Zumal wir damit endlich beim Thema sind. Ob „Tatort“, Talkshow oder „Tagesschau“ – gepflegtes Fernsehen war lange Zeit selbstverständlich allgemein verständlich. Und eine gute Idee.

Doch damit ist jetzt Schluss. Es scheint, der Trend geht zum Nschlfernsehen. Ja, Sie haben richtig verstanden: Wenn eine dieser Doku-Soaps und so genannten Reportagen, mit denen private TV-Sender zunehmend ihr Programm strecken, wieder mal irgendwelchen Fahrschullehrern, Möbelpackern und Entrümplern, Nasszellensanierern oder Häuslebauern, Müllabführern oder Polizisten hinterherwackelt und irgendwer irgendwo Kamera und Mikrofon hinhält, dann kann es gerne mal passieren, dass man kein Wort versteht. Alltag ist eben unberechenbar und hat noch nie von Siebs und seiner Hochsprache gehört, im Zweifelsfalle nimmt er keine Rücksicht auf Nebengeräusche und den armen Ton-Mann. Statt dessen geht das Leben weiter, vor allem das wahre, für ein „Alles auf Anfang!“ ist da kein Platz – und wir haben den Nschlsalat.

Gelegentlich, wenn wenigstens der Cutter was verstanden hat (und Zeit), wird so ein mieser O-Ton schon mal untertitelt. Ansonsten sitzen wir vornübergebeugt vorm Apparat, reflexhaft gebannt und runzeln die Stirn, als würde das was nützen: „Hä?“ Womit der Trend zum Nschlfernsehen für die Sender sogar was Positives hat: Er steigert unsere Aumerksekeit.