Das nackte Menschenkind

Zeig mir den Weg zur Erlösung: Das Potsdamer Theaterfestival Unidrama will westliche Rezeptionshaltungen mit osteuropäischem Theater konfrontieren

Die Performance beginnt, als hätten David Lynch und Marilyn Manson gemeinsam Hand angelegt: Rings um die Spielfläche ragen vier Türme auf. Ein Spot wirft Licht auf eine dämonische Figur mit kahlem Schädel und schwarz-rotem Umhang auf einem der Türme. Dumpfes Stampfen – Gothic Musik – ist zu hören. Der Spot erlischt, strahlt wieder auf und beleuchtet denselben Dämon – nur hockt er jetzt vor uns auf der Bühne. Dann schlägt der Ton der Aufführung um: Ein nackter Mann betritt die Bühne. Seine Haut ist blütenbesprengt. An seinen Hoden hängt eine Glocke. Der Mann wird ausgepeitscht, dann zieht er sich langsam an einem Seil in die Höhe. Jetzt ertönt die Glocke, und aus dem Leiden wird Erlösung.

Für den in der westlichen Theatertradition sozialisierten Zuschauer gibt es zwischen diesen beiden Passagen der Tanztheaterperformance „La Divina Commedia“, mit der die russische Gruppe Derevo das diesjährige osteuropäisch-deutsche Festival für Off-Theater in Potsdam eröffnet, einen deutlichen Bruch – den Umschlag des Unheimlichen ins Religiöse. Zwar hat das westeuropäische Avantgarde-Theater oft genug versucht, Theater und Ritual einander wieder anzunähern. Doch es ist dabei immer säkular geblieben.

Die Gruppe Derevo hingegen bearbeitet unter Anleitung des Choreografen Anton Adassinski ganz selbstverständlich religiöse Themen mit den Mitteln des modernen Theaters – von der Drehbühne bis zum Surround-Sound. Die Teufel, Engel und die alten russischen Weiber, die Birkenstöcke und Blechnäpfe, die auf eine arme, ländliche Welt verweisen: Alles dient dazu, die christliche Fabel vom nackten Menschenkind zu erzählen, das an der Vergänglichkeit verzweifeln muss, wenn es nicht den Weg der Erlösung findet. Dabei bietet Derevo wunderschöne poetische Bilder und ein fast perfektes, clownesques Spiel.

Trotzdem gerät der westlich geprägte Zuschauer, der das Unheimliche aus Kino und Theater gewohnt ist, dem Religiösen aber mit Skepsis gegenübersteht, schnell in eine gewisse Distanz zum Geschehen auf der Bühne. Dabei macht es den besonderen Wert der Aufführung aus, dass diese Befremdung ihrerseits produktiv ist: Man wundert sich, dass im postkommunistischen Russland die alten orthodoxen Bilder und Ideen wieder präsent sind. Und man grübelt über den Verlust an imaginären und emotionalen Reichtümern, der mit der Säkularisierung der westlichen Welt einherging.

Auch der zweite Abend des Festivals hat eine religiöse Thematik. Die Prager Performancetruppe Stage Code sucht in „The Angel Files“ Städte und Landschaften nach Engelsspuren ab. Als Zuschauer hat man es hier einfacher, denn die Aufführung bestätigt die eigene Weltsicht: Die meiste Zeit über ist der Abend eine Satire auf westlichen Spiritualitätswahn, ein fortwährendes Guru-Bashing und X-Files-Verarschen.

Die Übereinstimmung zwischen Zuschauern und Theatertruppe ist kein Wunder, denn hinter dem vermeintlich osteuropäischen Projekt stehen der Schweizer Philipp Schenker und die Dänin Helene Kvint. Was zu Beginn noch witzig ist – etwa das Aura-Scanning beim Einlass –, wird schnell zu fader parodistischer Kost ohne Herkunft, ohne Sehnsucht, ohne Bildkraft. Das Ziel des Festivals – die Konfrontation westlicher Rezeptionshaltungen mit osteuropäischem Theater – wird in diesem Fall verfehlt. Vielleicht liegt das aber einfach daran, dass der Osten zunehmend verwestlicht wird – auch das ist ja ein Ergebnis.

So stehen Derevo und Stage Code für zwei unterschiedliche Entwicklungslinien der osteuropäischen Theaterszene. Mit etwas Glück werden im weiteren Verlauf des Potsdamer Theaterfestivals vor allem Inszenierungen der Derevo-Variante zu sehen sein. PATRICK BATARILO