Mattanza nostra

Thunfischfang auf Sizilien: Um vom Fangerfolg unabhängig zu sein, soll das traditionelle Fischen als Schauspiel für Touristen dargestellt werden

Reiseführer rühmen und Dichter besingen ihn, den Zug des „Tonno Rosso“

VON ANDREAS FISCHER

Wenn der Winter geht, kommt der Thunfisch nach Sizilien so sicher, wie der Schnee am Ätna schmilzt, das weiß jedes Kind in Trapani, am südwestlichsten Zipfel Italiens. Reiseführer rühmen und Dichter besingen ihn, den Zug des „Tonno Rosso“: Die Fische kommen in großen Schwärmen, tausende glitzernder Leiber ziehen im Mai durchs türkisblaue Wasser, ganz nah an der Küste entlang, und schwimmen direkt in die Reusen der Fischer von Favignana und Bonagia. Sie sind Tonnaroti und brauchen keine Hochseeflotte, um den Thun zu holen. Ein System von Netzen leitet den Fisch in die Reusenkammern, so dass sie nur warten müssen, bis die Tiere hineingeschwommen und gefangen sind: In guten Jahren holten die Tonnaroti über 10.000 Exemplare aus dem Wasser, nur dieses Jahr haben sie lange kein Glück: Bald ist der Mai vorbei, und immer noch konnten sie keine „Mattanza“ machen, das große Gemetzel, wie die jahrhundertealte, ursprünglich arabische Methode des Thunfischfanges noch heute heißt.

Von ehemals 80 Standorten der Mattanza in Sizilien sind ganze zwei übrig geblieben. Davon unbeeindruckt liebt es die Mehrheit der Küstenbewohner, sich irgendwie als Fischer zu fühlen: Zwischen Mai und Juni erörtern Regionalfernsehen und Presse das Wohl und Wehe der Mattanza wie eine Schicksalsfrage der ganzen Küste. Besonders jetzt, solange der Zug der Fische ausbleibt und „la stagione delle tonnare“ ergebnislos zu verstreichen droht. Was soll man in Favignana und Trapani mit den vielen hundert italienischen Touristen machen, die gekommen sind, um das Spektakel der Mattanza zu beobachten?

„Ob die Touristen dies Jahr was zu sehen kriegen, ist mir egal“, meint Alessandro. Er steht am Tresen des „Due Colonne“, macht selbst in ausgelatschten Schuhen und dreckigem T-Shirt bella figura und kippt ein kaltes Bier herunter. Ein echter Tonnaroti, echter als seine blonde Mähne, und ein Mann, der sich im Übrigen gern vom Publikum bestaunen lässt.

Am nächsten Morgen sitzt Alessandro im Boot der Tonnaroti und übt sich im Schweigen. Wie alle Männer, die im dunstigen Licht aufs Meer hinausfahren. Vierzig sind sie, tragen abgenutzte Kleider, verstauen sorgsam Flaschen und Brotbeutel unter den Sitzen, bewegen sich bedächtig und ziehen auf Kommando die Mützen zum Gebet. Sie bringen das Karree der Fangflotte draußen in Position, kippen Eis ins große Transportboot und bugsieren fünfzig ungeduldige Touristen umständlich an Bord. Nur die näselnde Stimme des Vormanns ist zu hören, als die schwarzen Boote hinausgleiten. Bis zur Mittagszeit müssen die Tonnaroti auf See arbeiten, sie stehen im Dienst der Fischfabrik San Cusumano, deren Schornsteine vom Standort der Mattanza, etwa fünf Kilometer vor Bonagias Küste, gerade noch zu sehen sind. Alles ist Routine hier draußen, Netze kontrollieren, Anker auswechseln und dann ruhig in der prallen Sonne auf den Booten liegen: Zählen, wie viel Thunfisch in der Reuse angekommen ist. „50 Exemplare im Netz“, raunt Alessandro zum Vormann: Endlich sind die ersten Tonni gesichtet worden.

Heute heute wollen sie es schaffen, die Tonnaroti, die Vorarbeiter und ihr Rais, der von San Cusumano bestellte Chef der Mattanza, der seinen Ruf als Garant erfolgreicher Ernten und seine Provisionen nicht verspielen will. Sie hoffen, dass „il Corrente“ jetzt Gnade zeigt. Auf See, am Standort der Reuse, läuft diesmal alles nach Plan: Die Männer klopfen mit Stöcken gegen die hölzernen Rümpfe und haben Glück, der Schwarm der Thunfische schießt „über die Schwelle“, hinein in die „Camera de la Morte“. Bald ist die Kammer wohl gefüllt, von oben sind die Konturen hunderter Leiber zu sehen, doch den Fischern gelingt es nicht, den Netzboden gegen die Strömung in die Höhe zu ziehen „il Corrente“ hält dagegen.

Eine lange Stunde ziehen die Männer, mit bloßen Händen und vereinten Kräften, unter Gebrüll und mit Gesang, bis auch die Arme der Stärksten zu zittern beginnen und sich manche kraftlos zurück in die Boote werfen. Der Rais, ihr erbarmungsloser Kommandeur, bläst die Trillerpfeife, gibt scharfe Befehle und beschimpft seine Mannschaft, bis es endlich klappt: Das Netz ist oben, 450 Thunfische schlagen das Wasser zu Schaum und werden in 15 Minuten ins Fangboot gehievt. Erlöstes Geschrei, Scherze, Gelächter.

Gioacchino Cataldo, Kommandeur von Favignanas Fangflotte, streitet schon seit langem dafür, den Fischfang endgültig in ein Denkmal zu verwandeln: Um die „stagione delle tonnare“ wie bisher mit all den Touristen auf der Insel feiern zu können, muss der Thunfisch dann gar nicht kommen: Cataldos Leute arbeiten an einer „Mattanza experimentale“, die als Schauspiel auf der „Bühne des Meeres“ stattfinden soll, aufgeführt von echten Tonnaroti und für die Gäste leicht von der steilen Felsküste herab zu beobachten. Noch ist nicht entschieden, wer die Rolle des Thunfischs spielen soll. Sicher dagegen, dass Favignana ein „Zentrum für Meereskultur“ bekommt, erst kürzlich hat die EU die Gelder freigegeben für den Umbau der alten Thunfischfabrik am Hafen: Hier können die Gäste sich entschädigen, wenn die echte Mattanza nächstes Jahr tatsächlich ausfallen sollte: Ausstellungen und Sammlungen historischer Fanggeräte bestaunen sowie kolossale Filme anschauen über die stolzen Tonnaroti und ihr traditionsreiches Handwerk. Ausgerechnet Alessandro, der die Zierde von Cataldos Vorzeigemannschaft sein könnte, dem sie Normannische Ahnen nachsagen, kann den Dienst am Kulturtourismus nicht leiden: „Auf die Mattanza-Gucker kann ich leicht verzichten, die machen unsere sterbende Branche auch nicht wieder lebendig.“