Kleine Schätze in engen Gassen

Die Lieder der Trallaleri, die Paläste, die Toten und die kleinen Besonderheiten einer verkannten Stadt. Entdeckungsreise durch die Europäische Kulturhauptstadt Genua. Diese erstrahlt in neuem, von örtlichen Sponsoren finanziertem Glanz

VON ROBERT B. FISHMAN

Endlich darf sie wieder stolz auf sich sein, Genova, „La Superba“, die Stolze. Stolz auf ihren frisch restaurierten Hafen, ihre Altstadt, ihre neuen Museen, ihre Lieder, ihre Totenstadt Staglieno und ihren neuesten Titel: Kulturhauptstadt Europas. In der Altstadt, wo zuletzt Dealer, Drogenabhängige und Nutten zwischen verfallenden Häusern in dunklen, feuchten Gassen die Touristen verschreckten, entstehen jetzt Szenelokale. Unten, am lange totgeglaubten Alten Hafen, ziehen Europas größtes Aquarium und die Kinderstadt Città dei Bambini tausende von Besuchern an. Die einstige Prachtstraße Via Garibaldi erstrahlt in neuem, von örtlichen Sponsoren finanziertem Glanz. Der berühmteste aller Genueser, Cristoforo Colombo alias Christoph Kolumbus, wäre sicherlich begeistert.

„Meine Geliebte, Genua, nach Jahrhunderten im Schlaf der Historie hat sie sich schön gemacht, schön, um die Besucher der Welt gebührend zu empfangen.“ Mit diesen nicht ganz authentischen Worten des Entdeckers lädt ein kleiner deutscher Reiseveranstalter zu einer besonderen Art Italienischkurs ein: einer Genueser Schatzsuche auf Colombos Spuren.

Ein wenig ratlos stehen zwei Schwäbinnen und eine Münchnerin mit ihren Stadtplänen unter der Porta Soprana. Sie suchen das Geburtshaus des Entdeckers Christopher Kolumbus. In seiner als kleinkariert und geizig geschmähten Heimatstadt wollte niemand an seine verrückte Vision glauben: Man müsse nur immer weiter nach Westen segeln, um im fernen Osten, in Indien, anzukommen. Kolumbus wanderte nach Spanien aus, wo ihm die Königin seine Entdeckungsreisen finanzierte. Mit Genueser Geld. Waren es doch die reichen Bankiers der Stadtrepublik, die der spanischen Krone die Kredite für ihre Raubzüge durch Südamerika gaben.

Mit ihren Gewinnen bauten sich die führenden Familien der Stadt, die Dorias, die Spinolas und wie sie alle hießen, prächtige Stadtresidenzen, Palazzi an eigenen Plätzen, die sie nach sich benennen ließen.

Das ist lange her. Der Hafen ist weggezogen. Die Stahlwerke sind längst geschlossen, und auf den Werften werden keine Schiffe mehr gebaut. Nur noch wenige Arbeiter finden beim Um- und Ausbau von Kreuzfahrtschiffen ein Auskommen. Der einstige Stolz der Stadt, der Porto Antico, verfiel ebenso wie die Altstadt. Wer es sich leisten konnte, zog weg, auf die Berge am Rande der Stadt oder – etwas bescheidener – in die Neubauten zum Beispiel hinter der Porta Soprana.

An dem mächtigen, grauen, zweitürmigen Stadttor beginnt das neue, das moderne Genua. Diktator Mussolini ließ hier schon in den 30er-Jahren die ersten Wolkenkratzer in die Stadt setzen. Drum herum liegen Wohnblocks und Bürohäuser, als hätte ein Riese seine Bauklötze planlos in die Gegend geworfen.

Mittendrin, in einem kleinen Park, sonnen sich ein paar Genueser in einem Geviert von reich verzierten Säulen eines ehemaligen Klosters. Dahinter bestaunen Schulklassen und Touristen eine Ruine mit einer schwarzen Eisentür. Auf den Fragmenten des Dachs wächst Gestrüpp. Ein steinernes Schild erklärt das Haus zum Geburtsort Cristoforo Colombos.

An jeder Ecke, in jedem Winkel entdecken die reisenden Schatzsucherinnen aus Deutschland eine neue Welt. In der Via del Campo sollen sie einen ganz besonderen Laden finden und stellen dabei fest, dass es nur in Genua rote und schwarze Hausnummern gibt. Die roten sind für Läden, die schwarzen für Wohnhäuser. Die rote Nummer 29 klebt an einem ganz normalen Platten- und CD-Laden. Gianni Tassio hat sich seinem Idol und anderen norditalienischen Liedermachern, den Cantautori, ein ganz eigenes Denkmal geschaffen. An der Wand hängen Plakate von Georges Brassens, Max Manfredi und – in allen Variationen – vom modernen Heiligen der Stadt Genua, dem 1999 verstorbenen Liedermacher Fabrizio De André.

Der kam aus einem der besseren Viertel herunter in die Altstadt, brach sein Jurastudium ab und schrieb Lieder über die Ausgestoßenen, die Bewohner der Gassen, die Seeleute und die Verlogenheit des bürgerlichen Establishments. Seine auf Genuesisch gesungene Ode an die Stadt Genua, die Creuza de mä, den einstigen Maultierpfad zum Meer, wurde zur Hymne des örtlichen Fußballvereins und damit der ganzen Stadt.

Immer wieder erzählt Gianni, der Hurensohn, wie er sich selbst nennt, seine Geschichte: Fabrizio habe ein Lied über seine Mutter geschrieben, ihm damit ein Selbstwertgefühl gegeben, ihn sogar berühmt gemacht und so aus der Gosse gerettet. „Ich verdanke ihm so viel, auch diesen Laden“, wiederholt der kleine, kräftige Mann mit dem grau gewordenen Stoppelbart immer wieder. Er hält diesen, seinen, Fabrizios Laden jeden Tag geöffnet. Über die Theke verkauft er selbst gebrannte Fabrizio-CDs mit dem Aufdruck „unverkäufliche Privatsammlung“ und die offiziellen CDs der italienischen Liedermacher, Fotos und Plakate. In einem Schaufenster steht wie eine Reliquie Fabrizios letzte Gitarre, die er mit Spendengeldern aus der Stadt vor dem Export in die Fremde gerettet hat.

Viele Spuren haben sich in die Mauern der alten Stadt eingegraben. Die vielen mit Stuck, Fresken und Gold verzierten Marienbilder zum Beispiel, die fromme Genueser an ihren Hauswänden anbringen ließen. Überall in der Altstadt finden sich Puzzleteile und Fragmente der Genueser Geschichte. Selbst im Sommer bleibt es dunkel in vielen Caruggi, den feuchten, handtuchschmalen Gassen. Vielen der fünf, sechs Stockwerke hohen, schmalbrüstigen, aneinander gelehnten Häuser trotzen hier seit sieben und mehr Jahrhunderten der stickigen Hitze des Sommers und der alles durchdringenden Feuchtigkeit des ligurischen Winters.

Wirkliche Genueser Denkmäler sind keine Monumente. Es sind Institutionen wie die vielen Bars, wo man morgens in das Leben der Stadt eintaucht, das Neueste erfährt und dazu seinen Kaffee trinkt und eine Focaccia (ein Weißbrot aus Mehl, Salz und Olivenölteig) isst. Oder die Drogheria Torielli, ein winziger Feinkostladen, den die Familie 1931 übernommen und seitdem nicht mehr verändert hat. Hier duftet aus offenen Gläsern und Schalen die selbst gemachte weiße Basilikumschokolade mit der schwarzen um die Wette. Der Geruch der Gewürze mischt sich mit dem getrockneter Früchte und von mit Lavendel, Rosen und anderen Aromen parfümierten Seifen. Im Regal steht Safran in kleinen Gläsern neben den quietschbunten, stiefelgroßen Schokoladenostereiern der Saison. Ein paar Häuser weiter rasiert der Barbiere seine Kunden in einem original Jugendstilsalon, der in allen Farben des Regenbogens verglast ist.

Ganz ohne Kunden und Publikum kommen die alten Herren aus, die jeden Samstag über der kleinen Altstadtbar in der winzigen Gasse Vico Superiore del Ferro proben. Singend und wild gestikulierend scheinen sie zu streiten, sich gegenseitig anzufeuern. Dazu klagen, rufen, schmettern sie Wortfetzen in einer Mischung aus Italienisch und dem alten Genuesisch. Entstanden sind diese Trallaleri-Sprechgesänge womöglich auf den Galeeren, wo die Ruderer aus aller Herren Länder eine gemeinsame Sprache finden mussten, oder bei der schweren Arbeit im Genueser Hafen, wo es für lange Reden an Zeit und an Worten fehlte. So genau weiß das niemand. „Ähnliche Gesänge hat man nur in Schottland und in Georgien gefunden“, erzählt einer der noch nüchternen Trallaleri den Schatzsucherinnen, die von den Genueser Altstadtsängern gehört und sich schließlich bis zur Bar Luccoli durchgefragt haben. Sechs Gruppen von Trallaleri gebe es noch in Genua. Vor 30 Jahren seien es noch „mindestens 30“ gewesen.

Auch die Kirchen sind mehr als stille Monumente vergangener Zeit. Während die Schatzsucherinnen nach der Besonderheit des Bildes der Heiligen Familie in der Kirche suchen, erzählt Pfarrer Don Carlo vom Alltag im Viertel, von den Einwanderern, die sich mit den Alteingesessenen inzwischen gut verstehen, wie sie doch alle Geld verdienen wollen – und etwas sein wollen in dieser Welt.

Das war schon vor mehr als 300 Jahren so, als die Genueser darunter litten, dass sie als Republik keinen König hatten. Drum setzten sie kurzerhand der Heiligen Maria die Krone von Genua auf. Von nun an galten sie mehr als die anderen italienischen Kleinstaaten mit ihren profanen Monarchen. Und so kann man heute noch im Dom San Lorenzo die weltweit einzige Marienfigur mit einer Königskrone auf dem Kopf bewundern. Wundersames Genua.

Inzwischen haben die Schatzsucherinnen auch das Rätsel um das Bild in der Seitenkapelle von San Donato gelöst. Hier hält – weltweit einmalig – Josef das Jesuskind im Arm, während Maria am Rande steht. Schließlich hat die Zimmermannszunft das Werk in Auftrag gegeben.

Die Touristinnen aus Deutschland haben herausgefunden, wie viele Löwen den Dom San Lorenzo bewachen, warum an der Wallstreet des Mittelalters, der Piazza Bianchi, die Kirche auf Läden steht, obwohl laut Bibel doch Jesus die Händler aus dem Tempel geworfen hat. Sie haben die kuschelige Piazza delle Erbe entdeckt mit ihren Bars, Kneipen und der besten Eisdiele der Stadt, in der der Meister 150 verschiedene Sorten Eis kreiert. Sie haben Paläste besichtigt, mit einem Boot den alten und den neuen Hafen erkundet und die Geige von Paganini gefunden. Und zum Schluss treffen sie wieder auf Christoph Kolumbus. Ganz in Weiß steht er am Bahnhof Piazza Principe. „Ohne Genua“, soll er gesagt haben, „wäre ich nie zum Entdecker geworden.“