zwischen den rillen: Klandestine Nachtaktion
1969, Sex, Horror und struktureller Verfall: White Noise führten das Studioalbum mit „An Electric Storm“ in eine neue Ära
Des schlechten Wetters wegen fand die Revolution in Deutschland bekanntlich in der Musik statt. Auch in England müssen die Witterungsverhältnisse ungünstig gewesen sein, denn dort blieb es der Band White Noise überlassen, die Revolution in Töne zu fassen. Mit ihren improvisierten Exzessen und überformten Collagen, mit Formen zwischen Song und Parodie entstand „An Electric Storm“ als Paradigma einer neuen Kunst. 1969 war das, vor vierzig Jahren also, was jetzt zu einer jubiläumsgerechten Wiederveröffentlichung dieses Albums führte.
Nun ist „An Electric Storm“ natürlich gealtert. Viele der damals ungewöhnlichen Manipulationen, die Tonbandschnitte und die Synthesizereffekte, wirken heute selbstverständlich, ja konventionell. Wenn man die Platte aber mit anderen der technischen Revolution verpflichteten Veröffentlichungen dieser Jahre vergleicht, von Pink Floyd oder Emerson, Lake & Palmer zum Beispiel, wird schnell klar, dass White Noise einen grundsätzlich anderen Ansatz verfolgen.
Zum einen ist da ihr Umgang mit dem neuartigen Instrument namens Synthesizer. White Noise nutzten damals keinen Moog, sondern den weniger von der Tastatur her und stärker aufs Sounddesign gerichteten EMS. Mit seinem sperrigen, bräsigen, von der Tonhöhe wegführenden Klang versah die Maschine die Stücke mit einer elektronischen Aura, die nur wenig mit der potenten Virtuosität der fingerfertigen Keyboarder zu tun hat. Zwei der Bandmitglieder, Delia Derbyshire und Brian Hodgson, kamen damals außerdem frisch aus Studios der BBC; sie spitzten die Studiotechniken zu und führten sie weit über das damals im Popkontext Denkbare hinaus.
Zum anderen ist da die Haltung, mit der die Stücke umgesetzt werden. White Noise stehen Faust und Slapp Happy näher als den progressiven Bands aus England. Dazu gehört auch der verspielte, alberne Humor – das postorgiastische Schnarchen zum Beispiel, mit dem „My Game of Loving“ schließt. Das Experiment, das kann man von White Noise lernen, darf durchaus im Dienst einer Pointe stehen, und technischer Fortschritt muss nicht zwangsläufig etwas mit Potenz und Bombast zu tun haben.
Ihre Sujets lassen sich mit den Schlagworten Sex, Horror und Psychedelica ganz gut zusammenfassen. Aber David Vorhaus, ein rebellischer amerikanischer Musikstudent aus London und Mastermind der Band, überwindet drohende Plakativität und dräuendes Pathos immer mit Brüchen und strukturellem Verfall. Das ist, im besten Sinne des Wortes, manieristisch. Das Modell des Songs wird nicht obsolet, aber es stößt an seine Grenzen. Mit dem Song konkurrieren das Sounddesign und die Psychoakustik als neues strukturelles Dispositiv. Die beiden Seiten der Schallplatten heißen zum Beispiel „Phase-In“ und „Phase-Out“, der Bandname verheißt weißes Rauschen, Formschablonen wie das Gitarrensolo werden durchweg durch noisige Klangfluchten und spacige Halleffekte ersetzt.
Natürlich ranken sich auch wunderbare Entstehungslegenden um diese Platte. Die ersten Stücke wurden angeblich in einer klandestinen Nachtaktion in den Studios der BBC produziert, und das abschließende „Black Mass: An Electric Storm in Hell“ musste auf Druck der Plattenfirma Island in einer einzigen Nacht aufgenommen werden. Als das ratlose Label die Platte 1969 schließlich veröffentlichte, verkauften White Noise im ersten Jahr geschlagene 200 Exemplare. Es dauerte lange, bis „An Electric Storm“ als das Meisterwerk, das es ist, erkannt wurde.
Viele Künstler prägen nur ein einzigen historischen Moment. Vorhaus hatte diesen Moment 1969, als er in England die Revolution ausrief und ein Denkmal der Tonkunst schuf.
BJÖRN GOTTSTEIN
White Noise: „An Electric Storm“ (Island/Universal). Die Vinylfassung ist bei Parallel (Köln) und Resonanz (München) im Vertrieb
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