Barbara Bollwahn über Rotkäppchen
: Der Wodka machte mich hemmungslos

Das Moskauer Hotel Rossija, eins der größten der Welt, soll abgerissen werden. Als FDJler betrank ich mich dort

Das Moskauer Hotel Rossija soll abgerissen werden. Der riesige Kasten aus Marmor und Glas aus der Nach-Stalin-Ära ist kein Ausbund an Schönheit. Trotzdem ist es schade, dass es bald nicht mehr sein wird. Denn es ist ein Hotel der Superlative: Mit 3.170 Zimmern für 5.500 Gäste ist es eins der größten Hotels der Welt, größere gibt es nur in Las Vegas. Die Flure kommen auf eine Gesamtlänge von mehr als acht Kilometer. Zu Sowjetzeiten kursierte der Witz, dass es von manchen Zimmern aus näher zum Roten Platz ist als zum nächsten Frühstücksbüffet.

Seit der Fertigstellung 1967 übernachteten im Rossija mehr als zehn Millionen Gäste. Ich war einer davon.

1978 machte ich mit dem Jugendreisebüro der DDR, „Jugendtourist“, eine zehntägige Reise nach Kiew und Moskau. Die Fahrt war eine Art Auszeichnung für gute Russischkenntnisse. Wir fuhren ewig lange mit dem Zug. Das allein war schon aufregend, denn ich war 14 Jahre alt. In Kiew besichtigten wir den Gefechtsstand der I. Ukrainischen Front, woran ich mich leider nicht mehr erinnern kann. Dafür aber umso besser an Moskau: Kreml, Lenin-Mausoleum, Revolutionsmuseum, Volkswirtschaftsausstellung der UdSSR.

Auch bei den Getränken hielten wir uns an die russischen Gepflogenheiten. Abseits des Protokolls, versteht sich. Irgendjemand aus meiner FDJ-Gruppe hatte eine Flasche Wodka besorgt. Wir machten es uns in einem unserer Mehrbettzimmer im Rossija bequem, spülten Zahnputzbecher aus und hoch die Tassen! Nach einigen Schlucken war ich betrunken.

Der Wodka machte mich hemmungslos. Ich lief mit einem ärmellosen, bodenlangen, zitronengelben Nachthemd über einen der endlosen Flure. Doch eigentlich lief ich nicht. Ich wankte auch nicht. Ich patrouillierte! Barfuß und festen Schrittes. Zum Nachthemd trug ich eine Ritterrüstung aus rotem Plastik, die ich im Kaufhaus „Gum“ erworben hatte. Auf dem Kopf ein Helm, in der linken Hand ein Schild und in der rechten ein Schwert, wachte ich über den Rausch der anderen. Komischerweise ist meine Erinnerung an den ersten Alkohol präsenter als die an den ersten Mann, obwohl der Wodka vor dem Sex kam.

Suff hin oder her, dem Moskauer Bürgermeister, der das Rossija ein „störendes Gebäude“ nennt, möchte ich zurufen: „Zum größten Land der Welt gehört eins der größten Hotels der Welt!“. Nur weil es auf einem der teuersten Grundstücke seiner Heimat steht, muss er nicht die Abrissbirne schwingen.

Er soll das Hotel auch nicht in ein sowjetisches Disneyland verwandeln, wo nur mit Rubel bezahlt werden darf und echte Kakerlaken und unfreundliche Etagenfrauen US-amerikanische Touristen das Gruseln lehren. Er soll sich nur nicht schämen für den sozialistischen Charme, den das Rossija hat.

Vor zehn Jahren hätte ich in die Hände geklatscht und gerufen: „Haut weg den Scheiß!“. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Auch nicht damit, dass ich meine, nur weil ich im Rossija betrunken war, müsste es stehen bleiben. Es geht um Vernunft und Selbstbewusstsein.

Als ich im November 1989 nach Westberlin ging, habe ich viel aus meinem früheren Leben in hohem Bogen weggeworfen, weil es mir wertlos erschien. Sozialistischer Plunder. Erst als ich im Westen war, lernte ich den Wert meiner ostdeutschen Büchsenöffner, Quirle und Töpfe schätzen. Ein Quirl aus dem Osten funktioniert genauso einwandfrei wie einer aus dem Westen, der Unterschied liegt allein im Preis.

Wenn das Rossija dem Erdboden gleichgemacht wird, kommt vielleicht wieder ein Hotel hin. Darin werden die Gäste im Endeffekt aber auch nichts anderes machen als zuvor im Rossija. Schlafen, essen, trinken – sicher auch Wodka, so wie ich damals. Dann kann man es auch gleich stehen lassen.

Was auch immer das Rossija ersetzen wird, es wird nicht mehr das sein, was es ist und was auf der Homepage des Rossija zu lesen ist: „Das Hotel ist wie eine Visitenkarte für das Gesicht der Stadt.“

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