Von Gummifröschen und mehr Seltsamkeiten

Jugendhilfeausschuss zur Förderung für behinderte Kinder: Jahrelang erarbeitetes System soll auf den Prüfstand. Träger: „Bankrotterklärung“

Bremen taz ■ Der Frosch wird ins Müsli getunkt. Dann wieder geschüttelt. Die glibberigen Beine wackeln. Dann greifen kleine Kinderfinger dem Gummitier ins Maul und zerren eine grüne Zunge hervor, ziehen kräftig dran – und lassen sie flitschen. Mike und der Glibberfrosch sind an diesem Morgen unzertrennlich. Dazu kommt noch ein Spiegel, in dem Mike sich zusehen kann, wie er das Müsli isst. Oder den Frosch untertunkt.

Mike ist eines von rund 20 Kindern in der „Igel-Gruppe“ im evangelischen Kindergarten St. Johannes in Arsten. Aber anders als die anderen Kinder, die „Einen schönen guten Mohohorgen“ singen, ist Mike still, guckt den andern zu. Ab und an steht er auf, geht auf ein Kind zu und macht eine heftige Bewegung. „Du kannst Finja fragen, aber du ziehst sie nicht an den Haaren“, sagt die Assistentin, die Mike an diesem Morgen begleitet. Finja guckt kurz mit gerunzelter Stirn, dreht sich wieder weg.

Mike probiert jetzt alles

„Das ist halt der Mike“, beschreibt Behindertenpädagogoin Simone Strahlmann die Haltung der Kleinen. Mike ist eines von vier Kindern mit „speziellem Förderbedarf“ in dieser Gruppe. „Förderbedarf haben alle Kinder. Und es gibt welche mit speziellem Förderbedarf“, so die Leiterin Hella Wesseler-Kühl. Mike ist ein Kind mit einer so genannten „Wahrnehmungsverarbeitungsstörung“. Er ist Autist. „Er versucht sich zu spüren“, erklärt Simone Strahlmann die meist heftigen Bewegungen von Mike. Dass Mike Müsli isst, stellt einen großen Erfolg dar. „Als er kam, hat er nur Jogurt gegessen“, erzählt Strahlmann, „inzwischen probiert er alles.“ Und während Mike, begleitet von seiner Assistentin, mit den anderen spielt, während er irgendwann das Mittagessen probiert, samt Glibberfrosch und Spiegel, treffen sich im Siemenshochhaus eine Menge Leute, deren Thema kleine Menschen wie Mike und ihre besondere Förderung ist. Denn die soll auf den Prüfstand.

Ein ewiges Mantra

Bremen muss sparen, und das Ressort von Jugend- und Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) besonders – das ist das Mantra, das auch durch die Vorlage dringt, die der Jugendhilfeausschuss gestern zu behandeln hatte. „Zugangssteuerung der integrativen Hilfen im Bereich der Kindertagesheime“, so der Titel des Papiers. Denn 2.100 Anträge auf spezielle Förderung für Kinder wie Mike liegen vor, das Geld reicht aber nur für 1.450 – soviel Fälle wie derzeit bewilligt und wie das Budget von 17,5 Millionen Euro bedienen könnte. Also muss „gesteuert“, vulgo: gespart werden.

Die Kinder werden in drei Gruppen sortiert. Fälle wie Mike gehören in die besonders förderbedürftige Gruppe 3. Die meisten Kids mit Förderbedarf aber zählen zu Gruppe 1. Und diese Gruppe soll ausgedünnt werden, durch „verbesserte diagnostische Methoden“ und durch „eine deutliche Anhebung der Zugangsschwellen“.

Deckel oder Rahmen?

„Der Bedarf muss das Budget bestimmen, nicht umgekehrt“, hatte die Geschäftsführerin der evangelischen Kitas, Ilse Wehrmann, im Vorfeld gesagt, und: „Wir werden das nicht akzeptieren.“ Das mussten sie und die Vertreter anderer Verbände auch nicht, denn SPD-Mann Frank Pietrzok hatte die Lösung.

„Juristisch nicht tragbar“ seien die Formulierungen, die die Verwaltung dem Ausschuss vorgesetzt hatte. „Budgets sind keine Deckelungen, sondern Rahmen, die überschritten werden können“, so Pietrzoks Interpretation. Er schlug vor, neben der „Kenntnisnahme“ der umstrittenen Vorlage den Zusatz zu beschließen, dass es sich bei dem Budget um eine „kalkulatorische Richtgröße“ handele, „die nicht zur Deckelung führt.“

„Bankrotterklärung“

Zwar wurde das einstimmig beschlossen. Dennoch sei der Vorgang eine „Bankrotterklärung, was die Versorgung von behinderten Kindern anbelangt“, so Sylvia Gerking von der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. „Es ist unsere verdammte Pflicht, uns am Haushaltsanschlag zu orientieren“ erwiderte Staatsrat Arnold Knigge.

1.450 Förderfälle gab es im vergangenen Kindergartenjahr, 2.100 neue sind beantragt – das macht eine Steigerung von 50 Prozent aus. „Exorbitant hoch“ liege Bremen da im Vergleich zu anderen Großstädten, so Knigge, „ich vermute, das hängt auch mit der personellen Ausstattung der Kindergärten insgesamt zusammen.“ Das sah auch der Ausschuss so. Denn bei einer Erzieherin pro 20 Kinder ist es kaum möglich, sich um auffällige Kinder ausreichend zu kümmern. Diese Kinder müssten anders vielleicht nicht als leicht behindert oder beeinträchtigt stigmatisiert werden, sondern könnten mit Erzieherinnenhilfe einfach so integriert werden. So aber verbessert ihr Förderbedarf die personelle Ausstattung der gesamten Gruppe.

Am Gelde hängt doch alles

Weil aber am Schluss nur verteilt werden kann, was da ist, wird nun das Verteilungssystem „zeitnah geprüft und gegebenenfalls neu organisiert“. Auch das beschloss der Ausschuss einstimmig. Aber an dem jetzt gültigen System, das warf Personalrat Rainer Müller ein, hätten Fachleute jahrelang gefeilt. Ein besseres sei wohl kaum zu finden. Nur ein dem Portmonee mehr entsprechendes.

Für Mike spielen die Beschlüsse keine Rolle. Sein Förderbedarf ist klar. Aber vielleicht bald für einen wie Marcel. Er gehört zur Fördergruppe 2. Er beherrscht Zahlen und Buchstaben gänzlich, und das mit fünf. „Fümpf“, sagt Marcel, aber manchmal schreit er auch, ganz laut und lange und macht die andern ganz nervös. Marcel ist Autist. „Mit Zahlen kann man ihn manchmal schnell beruhigen“, sagt Simone Strahlmann. Heute hat Marcel die Köchin angeguckt. Das war ein echter Erfolg.
Susanne Gieffers