ein amerikaner in berlin
: ARNO HOLSCHUH über Wegweiser

Von Friedrichshain mit dem Bus nach Tempelhof

Es gibt nichts Schöneres, als in einer Sommernacht loszuziehen und eine neue Ecke von Berlin zu entdecken. Der Haken ist nur: Wie soll man zurückzukommen? Denn Berlin ist groß und ich wohne in Tempelhof. Für diejenigen, die diesen exotischen Bezirk noch nicht kennen, mag eine Erklärung angebracht sein: Das Herz Tempelhofs liegt jenseits des Flughafens, ungefähr zwischen Rom und Zypern.

Mit dem Nachtbus brauche ich von Friedrichshain ungefähr vier Stunden bis zu meiner Haltestelle, weil das nächtliche Bussystem jeder Logik entbehrt. Meist läuft es so: Ich steige in einen Bus, der mich laut Fahrplan nach Süden bringen soll. Der kurvt schnurstracks eine halbe Stunde nach Norden, nur um wieder nach Süden zu fahren, dreht eine kleine Runde durch ein Wohnviertel, um schließlich am Mehringdamm zu enden. In Pankow und Wittenau stieg niemand aus oder ein. Dieselben 15 Mitfahrenden hockten die ganze Zeit auf ihren Sitzen und spürten, wie ihr Alkoholspiegel sank. Vielleicht ist genau das der Sinn des Nachtbusses: Man ist immer ausgenüchtert, wenn man zu Hause ankommt.

Unterwegs hat man Zeit, die Umgebung anzuschauen. Neulich verkündete im Bus ein Punk neben mir, dass er gerade einen Futsch gesehen hat. „Einen Futsch?“, fragte ich. Er schwang sich zu mir, kippte die Hälfte seines Biers auf den Boden und versuchte den Grund seiner Aufregung möglichst klar durch seinen alkoholbetäubten Mund zu bringen: „Fuchs!“ Und da, neben dem Bus, war tatsächlich ein Fuchs. Er sah gut aus, wohl genährt und wacker. Mit einer Taube im Mund und einem fragenden Blick in seinen Augen sah er unserem weiterfahrenden Bus nach. So haben wir wenigstens was gelernt: Es gibt Füchse in Berlin, und sie sind gesund.

Zwar fahren mittlerweile am Wochenende statt der Nachtbusse die U-Bahnen. Aber wer geht schon am Wochenende auf die Pirsch. Zudem ist es selbst tagsüber nicht immer einfach, den Weg von A nach B zu finden, weil Berlin mit Verkehrsmitteln verschiedenster Art übersät ist. Bus-, U-Bahn-, Straßenbahn- und S-Bahn-Linien bieten sich an – zumindest theoretisch. Heute fährst du mit der U 1, morgen ist sie wegen Gleisarbeiten unterbrochen. Also nimmt man die S-Bahn, die aber übermorgen wegen einer technischen Störung ausfallen wird. Wenn beide ausfallen, kann man auch den Bus nehmen, nur ist es schwer festzustellen, welchen, weil das Schild an der Haltestelle mit Graffiti übermalt ist. Vermutlich fährt ein Bus genau da hin, wo du hinwillst. Aber wer in den falschen steigt, kommt zur Strafe nach Reinickendorf.

Daher kennen sich die meisten Berliner hervorragend mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus. Ein verinnerlichter Plan aller Fahrtmöglichkeiten lässt den Marzahner die besten drei oder vier Wege nach Mitte finden. Es würde auch andersrum funktionieren, aber die Menschen aus Mitte haben herzlich wenig in Marzahn zu suchen und sich deswegen nie damit befasst.

Von großem Nachteil ist diese BVG-Kenntnis allerdings für Fremde, denn aus der Not haben manche Berliner einen Stolz gemacht. Sie wetteifern stets darum, die ausgeklügeltste Route zu finden. Eine Bitte, den Weg nach Hause zu erklären, bietet diesen BVG-Künstlern die beste Möglichkeit, ihr Können zu zeigen. So wird einem abgeraten, schlicht U-Bahn zu fahren, wenn man von Prenzlberg nach Tempelhof will. Besser sei es, wenn man erst mit einer Straßenbahn fährt, dann mit der S-Bahn und schließlich auf ein Spreerundfahrtschiff umsteigt. Unter der Oberbaumbrücke springt man vom Boot, schwimmt zum Ufer, trocknet sich ab, steigt dann in einen bestimmten Bus ein, der allerdings nur bei Vollmond fährt. Der aber soll einen direkt nach Hause bringen.

Klar wäre es leichter, einfach mit der U-Bahn zu fahren, aber darum geht es nicht. In Sachen Verkehrsmittel kommt es den Berlinern eher auf Abenteuer und Eleganz an.

Arno Holschuh, 27, ist amerikanischer Journalist und lebt als Stipendiat für ein Jahr in Berlin