„Ich bin Berlin“

Berlin ist eine Frau. Wenn sie nach dem Aufstehen das Radio anstellt und „Guten Morgen, Berlin“ hört, fühlt sie sich persönlich angesprochen. Ein schönes Aufwachen jeden Tag. Berlin liebt Berlin

von WALTRAUD SCHWAB

„Egal, ob Junge oder Mädchen, das Kind heißt ‚Berlin‘.“ So entschied es der Vater. Er liebte die Stadt, in die er 1971 auf der Suche nach Arbeit gekommen war. Er, ein Türke arabischer Herkunft. Bald holte er seine Frau nach und schon ein Jahr später ging der Wunsch in Erfüllung: Berlin wurde geboren. Im Urbankrankenhaus übrigens. Weder das Standesamt noch die türkische Botschaft hatten Einwände gegen den Namen.

„Gut, dass ich ein Mädchen war“, meint Berlin. Der Name passe nicht zu einem Jungen. Recht hat sie: Berlin, das kann nur eine Frau sein. Die 31-jährige gelernte Arzthelferin ist an den Ort ihrer Geburt zurückgekehrt. Sie arbeitet nun im Urban. Die Doppeltürme sind das Wahrzeichen Kreuzbergs, jenes Bezirks, in dem Berlin aufgewachsen ist und der ihr bis heute der liebste in der Stadt ist. In der Notaufnahme des Krankenhauses hat sie angefangen. Dort hat Berlin die Seele Berlins hautnah gespürt. Nirgendwo sonst treten die Abgründe der Stadt so offen zutage. Berlin begegnet diesen dunkleren Seiten der Metropole mit Nachsicht, ja fast mit Zuneigung, obwohl sie heute in der Patientenverwaltung angestellt ist.

Berlin ist eine moderne Frau. Als Migrantenkind hat sie sich das erkämpfen müssen. Denn trotz der großen Liebe der Eltern zur Stadt wurde das Mädchen an der kurzen Leine geführt. Sie durfte das Haus nicht verlassen, nicht mal einkaufen gehen oder ihre Freundin besuchen. Aber Berlin ist zäh, sie erkämpft sich die Freiheiten, die sie braucht. Der Vater muss nachgeben. Sowieso sitzt er an der Quelle fürs Verständnis: Ihm gehört eine Kneipe in der Kantstraße. „Zum goldenen Löffel“ heißt sie. Bei Bier, Schnaps – da philosophiert es sich leicht über das Leben.

Je älter Berlin wird, desto mehr beginnt sie, ihren Namen zu lieben. Je älter Berlin wird, desto mehr liebt sie Berlin. Nicht arabisch, nicht türkisch, nicht deutsch fühlt sie sich. Sie ist Berlin. Das ist die beste Synthese fürs Multikulturelle. Sie, ihre Schwestern und ihr Vater haben deutsche Pässe. Nicht so der Bruder und die Mutter. „Für mich macht ein deutscher Pass keinen Sinn“, meint die Mutter Berlins.

„Ich heiße Berlin“, sagt Berlin. Im ersten Augenblick glauben die Leute ihr nicht. „Dabei hat der Name so einen schönen Klang.“ Sie lassen sich den Pass zeigen. „Dann finden sie es lustig. Toll.“

Es lebe sich gut als Berlin in Berlin, erzählt die junge Frau. Wenn sie nach dem Aufwachen das Radio anstellt und „Guten Morgen, Berlin“ hört, fühlt sie sich persönlich angesprochen. „Das stimmt mich positiv“, sagt Berlin. Die Stadt war immer schon für die kleinen Freuden zuständig.

„Berlin, du bist keine Türkin mehr!“ Es war die Filmemacherin Antonia Lerch, die ihr das sagte, als sie 1996 „Vor der Hochzeit“ drehte. Ein türkisches Mädchen bereitet sich darin auf die Ehe vor. Berlin, die aus Sicht ihrer alevitischen Eltern ebenfalls bald heiraten sollte, darf das Geschehen im Film kommentieren. Denn die damals 23-Jährige will nicht heiraten. Berlin will fliegen. Als Stewardess. Im Film werden ihre Wünsche, Träume und Ziele im Leben festgehalten. Auch wenn sie sich nicht alle erfüllt haben, sei doch alles in Erfüllung gegangen, meint sie.

Berlin liebt Berlin. Es ist die Stadt, nach der sie Heimweh hat, wenn sie im Urlaub ist. „Hier gibt es alles. Die Menschen sind offen, locker. Die Leute lassen sich leben. Jeder auf seine Art.“ Die Umstände sind egal. Berlin K. mag es nicht, wenn Nachname, Familienstand, Kinder, besondere Merkmale abgefragt werden. Für sie zählt das Herz und die Sehnsucht. Deshalb wohl hat Berlin sich immer schon gewünscht, dass ihr Bild einmal groß in einer Zeitung zu sehen ist und dass darunter steht: „Ich bin Berlin!“