: Flüchtige Schwingungen
Unruh und Unruhe brechen in das geordnete Leben des Buchhalters Kramer ein
Es handelte sich eindeutig um einen Spaziergang. Ja, es war ein Spaziergang, der Kramer am Geschäft eines Uhrmachers vorbeiführte. Er betrachtete die Schaufensterdekoration. Ein Wettbewerb war annonciert: „Goldene Unruh 2004“. Sehr plötzlich stürzte eine These in Kramers Gebälk: Wenn es gerecht zuginge in der Welt, dachte Kramer, dann wäre ich für die Auszeichnung „Goldene Unruh 2004“ nominiert und nicht die „Ocean Star Sport Diver“ von Mido.
Kramer verfasste einen Brief und sandte ihn an das Unruh-Kuratorium. Wenige Tage später lehnte die Jury für die Wahl zur Uhr des Jahres seine Bewerbung ab. Die Unruhe, die er beschreibe, sei nichts Außergewöhnliches, ihr fehle es an Expressivität, sie sei nicht markant genug. Man habe den Antrag wohlwollend geprüft, aber es seien bei ihm nur flüchtige, unrhythmische Schwingungen zu erwarten, wenn man seine Schilderung berücksichtige, in welcher Aufgeregtheit er mit dem Finger auf der Landkarte Reisen unternehme. Das Räderwerk der Unruh, die gemeint sei und der im Übrigen ein „e“ am Ende fehle, zeichne sich durch zuverlässige Gleichmäßigkeit aus. Sie sei im Gehäuse der von der Firma Sinn produzierten „356 Flieger“ oder in der „SpacematicGMT“ von Fortis perfekter und überzeugender austariert.
Den Versuch war es wert gewesen, insistierte Kramer ungerührt, immerhin hatte man auf sein Schreiben reagiert. Ihm war der ironische Unterton der Antwort entgangen, wahrscheinlich weil er, der allein lebte und zudem seine Erwerbsarbeit als Buchhalter einer Supermarktkette am heimischen Netzwerk-Rechner erledigte, sich selten in Gesellschaft von Menschen aufhielt. Das Einsiedlerdasein hatte seinem Wesen etwas Kauziges und Schrulliges eingebrannt.
Nun doch etwas bekümmert, flüchtete Kramer ins Geografische, in räumliche Gefilde, verwarf aber sofort die Idee, sich an einem Wettbewerb im Sektor Fernreisen zu beteiligen, sollte denn dergleichen existieren. Selbst bei einem umfassenden Strukturwandel seiner Lebensweise, schwante ihm, würde er den kaum gewinnen können. Bis auf die gelegentlichen Rundgänge im Viertel, das ließ sich ohne Übertreibung sagen, verbrachte er die Tage und Nächte in den eigenen vier Wänden. Selbst ein Becher Joghurt war in der kurzen Zeit seiner Existenz weitläufiger unterwegs als er. Das Radio hatte Kramer kürzlich darüber informiert, dass die Zutaten und die Verpackung eines einzigen Bechers Erdbeerjoghurt eine Distanz von insgesamt 9.115 Kilometern zurücklegen, bevor das Milchprodukt schließlich im Kühlregal steht.
Kramers Zeitgefühl geriet in Turbulenzen, wurde aus dem Takt gebracht, fand keinen Halt mehr, auch nicht durch das „sehr enge Zeitkorsett“, das den deutschen Außenminister auf einem Kongress zu einer verkürzten Rede gezwungen hatte. Überhaupt dieser Herr Fischer: In einem Interview mit der Zeitschrift Cosmopolitan hatte er kürzlich davon gesprochen, wie wichtig es sei, „dass die Zeit, die Sie mit Ihrer Frau und den Kindern verbringen, Qualitätszeit ist.“ Qualitätszeit! Das war nun eine Komponente, die Kramers Konstruktionen vollends in Schräglage brachte, zumal die Sozialministerin Niedersachsens erst vor wenigen Tagen das Gleiche gefordert hatte, nämlich eine „qualitativ hochwertige Zeit“, die man seinen Kindern widmen möge. Kramer verstand nichts von Kindern und deren Aufzucht – er hatte keine, er kannte keine –, meinte aber, dass der Besitzer eines Qualitätszeitfensters vermutlich über Personal verfüge. Personal, das vielleicht bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt war und im Zeitraffer seinen Job erledige.
Entkräftet gab Kramer auf, es war höchste Zeit. In die monströse Stille hinein hört er einen hellen Ton. „Ping!“ Nach einer irritierten Sekunde dechiffrierte Kramer das Klingeln als das akustische Signal der Mikrowelle, deren Zeitschaltuhr er morgens achtlos programmiert hatte. Das Essen war fertig. Wie immer sagte er „Mahlzeit“ zu sich selbst, bemerkte diesmal aber, dass „Mahlzeit“ wohl das mit Abstand am häufigsten gebrauchte Zeitwort war. „Mahlzeit“ – zigmillionenfach in deutschen Bürofluren, Bürotreppenhäusern, Fabrikgebäuden und Kantinen gegen Mittag ausgesprochen. Diese Überzeugung wärmte Kramer und beruhigte ihn augenblicklich. Es war schon nicht mehr so schlimm. Es war wieder erträglich. Brav aß er alles auf. Nach dem Essen würde er sich etwas Bewegung verschaffen, in einem weiten Bogen um das Geschäft des Uhrmachers ausschreitend, er würde spazieren gehen. DIETRICH ZUR NEDDEN
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