Eine Legende, die zum Vorbild wurde

Homer inspirierte viele Künstler – bis hin zum Film „Troja“. Dabei ist gar nicht sicher, ob der Barde je gelebt hat

Am Anfang der abendländischen Literatur steht der Name Homer. Doch der Verfasser der beiden Versepen „Ilias“ und „Odyssee“ ist selbst Legende: Fraglich ist, ob es ihn je wirklich gegeben hat. Tradiert hat sich sein Bild als das eines blinden Barden, der vermutlich im 8. Jahrhundert vor Christus im ionischen Kleinasien geboren wurde und ganz Griechenland durchwandert haben soll. Gleich sieben Städte beanspruchen die Ehre, seine Geburtsstadt zu sein. Der Überlieferung nach ist Homer auf der Durchreise von Samos nach Athen auf der Kykladeninsel Ios gestorben.

Die einzige Spur, die heute noch auf den Verfasser verweist, sind die 28.000 Hexameter vom Trojanischen Krieg, die von späteren Bearbeitern in 24 Gesängen zusammengefasst wurden. Doch auch dieser Text gibt Rätsel über die Person des Verfassers auf. Niemand im alten Griechenland sprach so wie Homer. Die Werke sind in einer Kunstsprache aus ionischen und äolischen Dialekten abgefasst.

Die Oral-Poetry-Forschung erkannte in der formelhaften Sprache der beiden Epen ältere Einflüsse einer mündlichen Sagenüberlieferung. Ihre Folgerung: Nicht ein Mensch allein, sondern viele Erzähler haben an der Fabel vom Trojanischen Krieg gestrickt. Doch nur in einer Fassung, eben derjenigen, die wir mit dem Namen Homer verbinden, wurde sie schriftlich festgehalten. Im antiken Griechenland wurde sie bei Festspielen vorgetragen und Kindern zum Auswendiglernen aufgetragen.

So hat Homer die ideologischen Muster des griechischen Menschenbildes geprägt. Die in den Epen zentralen Begriffe von Ehre (time) und Tugend (arete) galten in der gesellschaftlichen Ethik des antiken Griechenlands als zentrale Werte und gaben die Themen der weiteren griechischen Philosophie und Literatur vor. Als poetologisch musterhaft galt der Aufbau der „Odyssee“, bis heute ist sie Vorbild für viele Heimkehrergeschichten. Aristoteles, für den im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Existenz des historischen Homer ganz fraglos war, beschreibt in seiner „Dichtkunst“ den Verfasser als „göttlich“. Auch neuzeitliche Dichter sahen sich von diesem poetischen Anspruch herausgefordert: In seinem „Ulysses“ verknappte James Joyce die Odyssee seines Helden Leopold Bloom auf einen einzigen Tag.

Die ungesicherte Autorenschaft hat Homers Einfluss auf die europäische Literatur nicht geschmälert. Doch die „homerische Frage“ nach der sprachlichen Einheit der Texte und der tatsächlichen Existenz ihres Verfassers sind ebenso Teil der Wirkungsgeschichte. Schon 1795 stellte Friedrich August Wolf die Autorenschaft Homers in Frage: Die beiden Epen seien das Werk einer ganzen Anzahl von „Homeriden“, den tatsächlichen oder geistigen Nachfahren des Homer, die als Gilde von Rhapsoden die Dichtung Homers weitertrugen. Doch auch das blieb schon unter Wolfs Zeitgenossen nicht unwidersprochen: Goethe wollte an Homers Existenz nicht zweifeln. JAN-HENDRIK WULF