Begehrter Zettelkasten

Der legendäre Zettelkasten des Soziologen Luhmann sorgt für Familienstreit und eine Klage vor dem Oberlandesgericht in Hamm

Seit Jahren darf der Zettelkasten mit tausenden Ideen Luhmanns nicht geöffnet werden

AUS HAMMKLAUS BRANDT

Auch sechs Jahre nach dem Tod des weltweit renommierten Gelehrten und Bielefelder Soziologie-Professors Niklas Luhmann wird um die Enträtselung und Verwertung seines wissenschaftlichen Nachlasses heftig gestritten. Im Mittelpunkt steht der legendäre und geheimnisumwitterte „Zettelkasten“ des Universaltheoretikers, den er über dreißig Jahre lang mit zig Tausenden Notizen, Anmerkungen und zu Papier gebrachten Ideen gefüttert hat. Wegen der urheberrechtlichen Ansprüche am wissenschaftlichen Werk des 1998 im Alter von 71 Jahren bei Bielefeld verstorbenen Vaters sind die drei Kinder des großen Soziologen heillos zerstritten. Einer der Söhne hat seine Schwester verklagt – auch um sich Rechte am „Zettelkasten“ zu sichern, der das gesamte Wissen des Gelehrten bergen soll.

Vor dem 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) in Hamm fand am Mittwoch eine weitere Runde im Erbstreit um den wissenschaftlichen Nachlass Luhmanns statt. Die entscheidende Frage: Wie ist das Testament auszulegen, das der Bielefelder Soziologie-Professor verfasst hat? Darin hatte er seiner Tochter alle Rechte aus Publikationen, einschließlich Neuauflage und Lizenzen, zugesprochen. Damit seien alle Erlöse aus seinen zahlreichen Büchern gemeint und nicht das Urheberrecht am gesamten wissenschaftlichen Werk, behauptet der Bruder. Dieses stehe allen drei Kindern zu.

Ein schwieriger Fall der Testamentsauslegung und möglicherweise ein Dauerstreit um jede formulierte Idee, wenn keine Einigung zwischen den Parteien erzielt werde, so das OLG. So wurde ein Vergleichsvorschlag unterbreitet, der das ideelle Erbe des Gelehrten in Euro und Cent umsetzte. Entweder die Brüder treten das Urheberrecht an die Schwester ab und erhalten jeweils 100.000 Euro oder die Schwester überläßt den Brüdern ihr Urheberrecht und wird mit 100.000 Euro abgefunden.

Kommt es nicht zu einem Vergleich, wird das OLG Mitte Juli ein Urteil verkünden. Bis dahin bleibt der sagenumwobene Zettelkasten des Soziologie-Professors im „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ der Universität Bielefeld unter Verschluss. Geöffnet, enträtselt und erforscht werden darf der Zettelkasten wegen des andauernden Erbstreits schon seit Jahren nicht.