Spieß umgedreht

Das Verfahren gegen den Kritischen Polizisten Thomas Wüppesahl entwickelt sich zum Kriminalpuzzle. Ermittlungsmethoden der Polizei im Fadenkreuz des Gerichts

Die Anklage hat es in sich: Körperverletzung im Amt, Nötigung, Verfolgung Unschuldiger, Eingriff in den Straßenverkehr

Der Bundessprecher der Kritischen PolizistInnen, Thomas Wüppesahl, gilt weiten Teilen des Hamburger Polizeiapparats als rotes Tuch. Daher ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass die Polizeiführung im November 2000 vermeintliche Verkehrsbagatellen zu einer deftigen Anklage aufzubauschen versuchte. Seit Anfang April verhandelt das Landgericht nun in zweiter Instanz über die vermeintlichen Verkehrsvergehen – und Wüppesahl wurde vom Angeklagten zum Ankläger: Richter Holger Randel hat jetzt fünf weitere Prozesstage angesetzt, um den Verdacht der Aktenmanipulation, Absprachen und Falschaussagen nachzugehen.

In der Tat hat sich das Verfahren um zwei banale Alltagsvorfälle im Straßenverkehr in der Berufung zu einem kriminalistischen Puzzle entwickelt. Wüppesahl soll auf der Deichstraße im Alten Land zu dicht an dem Falschparker Bernd R. vorbeigefahren sein und diesem den „Stinkefinger“ gezeigt haben. Vor einer Ampel im Freihafen trafen beide wieder aufeinander. Hinzu kam der Brummi-Fahrer Jürgen V., der sich von Wüppesahl ausgebremst gefühlt hatte.

Als V. den Polizisten attackierte, zog dieser seine Dienstmarke, um zu „deeskalieren“, und nahm die Personalien auf. Als er wieder anfahren wollte, stellte sich V. seitlich dem Fahrzeug entgegen und ließ sich, so Wüppesahl, zu Boden fallen. Eine Verletzung zog er sich dabei nicht zu. R. will das Geschehen nicht beobachtet haben. Die beiden Wasserschutzpolizisten Thomas S. und Ray G. nahmen den Vorfall auf und gaben Wüppesahl, der eine Strafanzeige gegen V. stellen wollte, ein Aktenzeichen. So weit, so gut.

Doch als die Waschpo-Leute in ihrem Revier den Namen Wüppesahl erwähnten, setzte ein reges Treiben ein. Die beiden Polizisten wurden zur Beweissicherung ins benachbarte Reviergebiet Altes Land beordert, der Dienstgruppenleiter trommelte eine große Runde zur Besprechung zusammen, das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) wurde alarmiert. In den folgenden Tagen wurde eine Anklage gezimmert, die es in sich hat: Körperverletzung im Amt, Nötigung, Verfolgung Unschuldiger, Eingriff in den Straßenverkehr.

In erster Instanz wurde der 48-jährige Kommissar vom Amtsgericht zu 40 Tagessätzen verurteilt – der Staatsanwalt hatte auf ein Jahr und somit Entfernung aus dem Polizeidienst plädiert. Wüppesahl legte Berufung ein, da er hinter der Affäre eine Mobbing-Kampagne vermutet.

In dem Berufungs-Verfahren zeigt sich nun das Gericht aufklärungsfreudiger. So ist herausgekommen, dass der Autofahrer Jürgen V., der die Handbewegung Wüppesahls nach dem Vorfall zunächst nicht deuten konnte, von seinem Bruder animiert worden ist, die Bewegung als „Stinkefinger“ zu interpretieren. Der Bruder ist Polizist und war zu der Zeit Mitglied des Einsatzzuges West. Der Tatort- und Ermittlungsbericht des DIE-Mitarbeiters hingegen, der damals in das Wasserschutzrevier gerufen worden war, ist offenkundig aus der Akte verschwunden.

Und die DIE-Mitarbeiterin, die unverzüglich die Sachbearbeiterung übernommen hatte, behauptet, erst Tage später den Fall Wüppesahl übernommen zu haben. Das widerlegen aber Daten aus dem polizeilichen Datensystem Comvor. In dem Zeitraum, in dem sie angeblich noch nicht mit den Fall betraut gewesen war, waren laut Comvor zahlreiche Dienststellen mit dem Komplex Wüppesahl befasst. So gab es auch Besprechungen zwischen dem damaligen Innenstaatsrat Wolfgang Prill (SPD), der DIE-Leitung und der Staatsanwaltschaft.

Richter Randel sieht folgerichtig durchaus Klärungsbedarf. Am Montag um 8 Uhr im Saal 209 des Hamburger Landgerichts soll die nächste Aufklärungsrunde beginnen.

MAGDA SCHNEIDER