Das Ende von Chinatown

Vor 60 Jahren machte die Gestapo dem Hamburger Chinesenviertel in St. Pauli ein Ende. Die Bewohner wurden unter Spionageverdacht eingekerkert

Nicht einmal eine Gedenktafel erinnert in der Schmuckstraße heute an das Schicksal der Hamburger Chinesen in St. Pauli

von BERNHARD RÖHL

Wer nach Amsterdam oder San Francisco reist, besucht auch Chinatown. Weniger bekannt ist dagegen, dass es bis 1944 auch in Hamburg ein kleines Chinatown gab – mitten in St. Pauli. Vor 60 Jahren wurde das Chinesenviertel von der Gestapo aufgelöst.

Die Schmuckstraße von St. Pauli, die die Große Freiheit mit der Talstraße verbindet, war das Zentrum der chinesichen Kolonie in der Hafenstadt. Daneben lebten zahlreiche Chinesen – die meisten von ihnen waren als Seeleute gekommen – auch in der Hafenstraße, der Bernhard-Nocht-Straße oder am Pinnasberg im Viertel. Sie betrieben nicht nur Restaurants, wie man es noch heute kennt, sondern vor allem Wäschereien und Grünwarenläden.

Für die Hamburger ein fremder Anblick: Der Lokalautor Ludwig Jürgens schrieb 1930: „Haus bei Haus ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat über oder neben dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen. Die Fenster sind dicht verhängt, über schmale Lichtritzen huschen Schatten, alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses. Die Schmuckstraße ist das Chinesenviertel von St. Pauli, geheimnisvoll und rätselhaft wie das große Mutterland im Fernen Osten. Kein Europäer durchdringt je diesen Schleier.“

Von 1920 bis 1932 war Hamburg ein bedeutender Umschlagplatz des internationalen Opiumhandels. Die Chinesen gehörten traditionell zu den Kunden, vor allem zahlreiche Seeleute, die im Opiumrausch ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu verdrängen trachteten. In der Hafenstraße 126 und am Pinnasberg 77 in St. Pauli gab es damals zwei so genannte Opiumhöhlen, in denen sich jedoch auch Deutsche und Japaner als Kunden blicken ließen.

Nach Beginn der Nazi-Diktatur 1933 befahlen die neuen Machthaber, dass die inländischen Reedereien vor allem deutsche Seeleute beschäftigen sollten. Zunächst hielten sich die Reeder daran, später jedoch wuchs auch die Zahl ausländischer Matrosen wieder.

Als das Hitler-Regime im September 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesslte, verließen auch viele Chinesen Hamburg. Die Torpedos der U-Boote versenkten aus Großbritannien stammende Schiffe, auf denen auch zahlreiche chinesische Besatzungsmitglieder Dienst taten. Wenn diese überlebten, wurden sie in Deutschland interniert. Einige jedoch erhielten auch die Erlaubnis, in Hamburg bei Landsleuten zu wohnen. Eine besondere Rolle spielte dabei eine kleine Kneipe am Hamburger Berg in St. Pauli.

Dort unterhielt Chong Tim Lam eine Gaststätte. Er fungierte als Vertrauensmann für das chinesische Konsulat in Berlin, um Ausreisepapiere für kranke und ältere Chinesen zu besorgen und vermittelte Kontakte der Internierten zu den Hamburger Chinesen. Die Gestapo und weitere Behörden überwachten diese Maßnahmen genau.

Die Chinesen, die Deutschland verlassen wollten, reisten über Berlin und die von der Wehrmacht besetzten Balkanstaaten in die Türkei. Sie mussten sich offiziell verpflichten, sich nicht am krieg gegen Hitler-Deutschland zu beteiligen, dann wurde ihnen der Ausreiseweg gewährt.

Das britische Konsulat in Istanbul zahlte den chinesischen Seeleuten die Heuer nachträglich aus. Einige von ihnen heuerten wieder auf Schiffen aus Großbritannien an, wie die Gestapo in Hamburg 1944 angeblich in Erfahrung brachte.

Das Ausländerdezernat der Gestapo nannte sich „Ausländerüberwachung und Bekämpfung feindlichen Ausländertums“, geleitet wurde das Amt von dem Kriminalkommissar und SS-Hauptsturmführer Albert Schweim, seit Januar 1944 im Amt. Er gehörte schon vor 1933 der NSDAP an, über die Polizei kam er zur Gestapo. Schweim war berüchtigt, er wird für den Tod unzähliger ausländischer Häftlinge verschiedener Nationalitäten verantwortlich gemacht. „Lieber zehn mehr als einer zu wenig“ soll einer seiner Wahlsprüche gewesen sein.

Der frühere Kriminalhauptkommisar Helmut Ebeling schreibt in seinem Buch: „Schwarze Chronik einer Weltstadt – Hamburger Kriminalgeschichte 1919-1945“ über das Ende der Chinatown und Schweims Rolle dabei: „Kommissar Schweim, dem die Chinesen ohnehin unheimlich waren und der sie im Verdacht hatte, für die Westmächte zu spionieren, beschloss, ein Exempel zu statuieren.“ Der SS-Hauptsturmführer befahl für den 13. Mai 1944 die Menschenjagd auf die noch in St. Pauli lebenden Chinesen: Die Gestapo – unterstützt von der Kriminal- und der Schutzpolizei – durchkämmte die Schmuckstraße und weitere Straßen, um die chinesischen Staatsbürger zu verhaften.

In der Schmuckstraße 18 zum Beispiel befand sich seit 1925 das chinesische Restaurant „Chop Suey“. Sein Gastwirt Kam Sing Fog gehörte zu den 130 Opfern der so genannten Chinesen-Aktion von Gestapo und Polizei. Sie wurden verhaftet und im KZ Fuhlsbüttel in Hamburgs Nordwesten interniert. Unter den Häftlingen war auch der Kontaktmann des Konsulats, Chong Tim Lam.

Die Gestapo versuchte vergebens, durch Verhöre und Folterungen aus den Chinesen Informationen über angebliche Spionage für Großbritannien herauszupressen. Im Spätsommer deportierten die Nazis die Verhafteten in das Arbeitslager „Langer Morgen“. Ausländische Arbeitskräfte und vermeintlich „arbeitsunwillige“ Deutsche waren hier ohne jedes Gerichtsurteil eingesperrt.

Die Häftlinge mussten beim Gleisbau im südlichen Stadtteil Wilhelmsburg schuften, wurden im Dienst der Ölindustrie eingesetzt und in einem Betonwerk im Stadtteil Billstedt. Innerhalb weniger Wochen starben 17 der chinesischen Häftlinge an den Strapazen des Lagerlebens. Über 100 Chinesen überlebten jedoch die Haftbedingungen und schafften es bis zur Befreiung durch die Alliierten. Nur ein kleiner Teil von ihnen blieb in Hamburg, die meisten kehrten nach dem Krieg in ihre asiatische Heimat zurück.

Die Schmuckstraße ist heute fester Bestandteil des Amüsierbetriebs in St. Pauli, unter anderem ein Treffpunkt für Transvestiten. An das Chinesenviertel erinnert nichts mehr – nicht einmal eine Gedenktafel.