berliner szenen „Hallo, schöne Frau!“

Der Selbstmörder

Der schwankende Verwirrte, der mir schon auffiel, als er über die Gleimstraße torkelte, spricht mich an, als ich auf meine Freundin vor der Deutsche-Bank-Filiale in der Schönhauser Allee warte und in dem zuvor in der Wolliner Straße gefundenen „Fliegerjahrbuch 1970“ blättere. Er kommt so nahe an mich heran, dass ich wegen seines Alkohol-Atems froh bin, das Buch als Barriere zwischen uns halten zu können.

Er starrt verständnislos auf das Foto des Ling-Temco-Vought F-8-Crusader-Schwenkflügelflugzeugs und fragt mich: „Und was machen Sie für eine Umfrage?“ „Ich kuck mir nur das Buch an.“ Ich blättere weiter, „Michail L. Mil – ein Leben für den Hubschrauber“, steht da und ich versuche angestrengt, mich auf den Tragschrauber ZAGI A-4 zu konzertrieren.

„Ich werd mich umbringen“, sagt er.

„Umbringen?“, frage ich ihn.

Sein Entschluss scheint festzustehen: „Ja.“

„Ist das nicht übertrieben?“ „Nein!“

„Haben Sie Kummer?“

„Ja!“

„Aber das ist doch übertrieben.“

„Nein!“, bleibt er dabei, und: „Ich hab ’n prima Job“, was in dem Zusammenhang wenig Sinn ergibt. Er geht weiter und legt sich auf die Fahrbahn, eine Situation, die mich überfordert. Zwei Vespafahrer, die zuerst anhalten, sind zum Glück Polizeischüler, mit Passanten wird der Mann auf den Bürgersteig gehievt, während ich die Polizei anrufe. Ein Glück, dass diese kompetenten zukünftigen Gesetzeshüter dabei sind, die wissen, was zu tun ist. Bald kommen auch die gerufenen Einsatzkräfte hinzu. Der Liegende grinst den bärtigen Polizisten, der sich über ihn beugt, an und sagt: „Hallo, schöne Frau!“

FALKO HENNIG