Einsam – auch ohne Liebeskummer

Es ist auch heute noch eine erlebnisreiche und abenteuerliche Reise in eine andere, fremde Welt, in die Welt des ländlichen Frankreich – auf dem Stevenson-Weg zu Fuß in die Cevennen. Auch das Marketingkonzept der Region orientiert sich am Weg des Autors der „Schatzinsel“

VON ANIMA KRÖGER

Am 22. September 1878 brach der Schotte Robert Louis Stevenson zu einem längeren Fußmarsch in die Cevennen auf. Zu diesem Zeitpunkt war er ein völlig unbekannter Mann, 27 Jahre alt und unglücklich verliebt. Die Frau seines Herzens war in seinen Kreisen nicht gerade eine gute Partie. Sie hieß Fanny Osbourne: eine Amerikanerin, zehn Jahre älter als er, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Die beiden hatten in Paris zusammengelebt, doch nun hatte Fanny sich mit ihrer Tochter Belle und ihrem Sohn Lloyd nach Kalifornien eingeschifft. Dort wollte sie sich mit ihrem Ehemann und Vater ihrer Kinder treffen.

Allein blieb Stevenson in Frankreich zurück. Um sich von seinem Liebeskummer abzulenken, plante er eine Reise in die Cevennen, von denen und den dort lebenden Protestanten er etwas romantische Vorstellungen hatte. Er quartierte sich in Le Monastier ein und traf umfangreiche Vorbereitungen für die etwa 220 km lange Strecke durch Haute-Loire, Lozère und Ardèche bis Alès: Er ließ sich einen Spezialschlafsack anfertigen, packte allerlei wie Revolver, Spirituskocher, Bücher, Eierschneebesen ein, viel zu viel, wie sich bald herausstellen sollte. Er besorgte Esswaren wie Zervelatwurst in Büchsen, eine Hammelkeule und eine Flasche Beaujolais. Und, um das ganze Gepäck zu transportieren, kaufte er sich eine Eselin. Die Eselin nannte er Modestine. „Von einem Touristen meiner Sorte hatte man in dieser Gegend noch nie etwas gehört. Man betrachtete mich mit geringschätzigem Mitleid wie einen, der sich eine Mondreise vorgenommen hat, und zugleich mit respektvollem Interesse wie einen, der im Begriff ist, zum unwirtlichen Nordpol aufzubrechen“, schreibt Stevenson später in seinem Bericht „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“.

Seine Reise wurde zum Marketingkonzept einer ganzen Region. Es gibt eine Stevenson-Gesellschaft der Gastronomen, Tourismusbüros und Eselverleiher. Angeboten werden auch organisierte Gruppenwanderungen – inklusive Esel.

Es ist auch heute noch eine erlebnisreiche und abenteuerliche Reise in eine andere, fremde Welt, in die Welt des ländlichen Frankreich. Eine Reise, bei der man – je nach Tagesform, klimatischen und räumlichen Gegebenheiten – täglich etwa 15 bis 25 Kilometer zurücklegt. Es ist auch eine Reise in die Vergangenheit, denn viele Pensionen und Unterkünfte sind noch original im Stil der 50er-, 60er- oder 70er-Jahre eingerichtet.

Ausgangspunkt ist Le Puy, ein verträumtes Städtchen mit gepflasterten Straßen und altmodischen Geschäften. In verstaubten Auslagen werden Spitzenklöppeleien und Kunsthandwerk zu günstigen Preisen angeboten. Die Kathedrale mit der schwarzen Madonna – in den Fels gebaut – gehört zum Weltkulturerbe der Unesco. Ein Portal führt nach Santiago de Compostela.

Der eigentliche Stevenson-Weg beginnt in Le Monastier, etwa 15 km südöstlich von Le Puy, und ist manchmal mehr schlecht als recht als GR 70 ausgezeichnet. Er führt zunächst bergab, bergauf durch menschenleere Gegenden und halb zerfallene Dörfer. Wegen der großen Landflucht in Frankreich ist es hier heute vielfach noch einsamer als zu Zeiten Stevensons. Am Ufer der noch schmalen Loire liegt das malerische Goudet. „Goudet ist von allen Seiten von Bergen eingeschlossen; bestenfalls für Esel gangbare, steinige Fußwege verbinden mit der Außenwelt.

Die Männer und Frauen trinken und fluchen in ihrer Ecke und blicken im Winter hinauf von der Schwelle ihres Hauses zu den schneebedeckten Gipfeln …“, berichtet Stevenson. Wir steigen auf einem schmalen Pfad steil ab und treffen vor dem Hotel, in dem bereits Stevenson übernachtete, ein hochbetagtes Pärchen. Sie trägt ein Kleid mit Leopardenmuster, er erzählt von einem früheren Aufenthalt vor 20 Jahren. Wenig habe sich geändert, nur die Steinmauern, die zur Begrenzung der Felder dienten, seien vielfach verschwunden, um die Bewirtschaftung mit Traktoren zu erleichtern. Wir kehren in einem kleinen Restaurant ein, das von einer älteren Dame bewirtschaftet wird, und sind die einzigen Gäste. Sie erzählt uns von zwei kräftigen Deutschen, die einstmals nach einer Wanderung in ihrem Lokal wegen Hitzschlag ohnmächtig am Tisch zusammenbrachen. Wir nächtigen in einer Ferme-Auberge – neben 400 Schafen im benachbarten Stall. Über eine Hochebene geht es am nächsten Tag weiter. In der Auberge in Le Bouchet St. Nicolas erzählt uns ein Mann begeistert von seinem Militärdienst in Tübingen.

Passend dazu kreisen über uns Raubvögel und Düsenjäger. Letztere gab es zu Stevensons Zeiten nicht, aber sonst hat sich nicht viel verändert. „Außer einer Kavalkade von Frauen im Herrensitz und ein paar Postläufern war die Straße bis Pradelles von tödlicher Einsamkeit“, schreibt Stevenson. Der Besitzer eines kleinen Hotels in Landos ist hoch erfreut, als wir eintreffen: „Schon wieder zwei Wanderer!“ Denn an dem Tag war bereits ein französisches Apothekerpaar dort abgestiegen Nach einem Aufstieg gelangen wir über Pradelles, das sehr schön am Hang liegt und einen atemberaubend weiten Blick in die Ebene bietet, in den Straßenort Langogne, über die Bergruine Luc weiter durch den Wald bei strömendem Regen zum Kloster Notre-Dame-des-Neiges. Im Kloster leben heute noch etwa zwei Dutzend Trappistenmönche in schwarzen Kutten, die ein Schweigegelübde abgelegt haben. Ihr Tagesablauf ist streng reglementiert, siebenmal am Tag besuchen sie die Klosterkirche, um zu singen und zu beten. Die Vigilien beginnen um 4.30 Uhr morgens.

Nach der herzlichen Begrüßung durch Père Hôtelier bleiben wir, ähnlich wie Stevenson, etwas länger, um unsere Sachen wieder trocknen zu lassen, unterhalten uns bei Tisch mit den anderen Gästen, beispielsweise einem Vietnamesen auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Über Chasseradès, Les Alpiers, Le Bleymard geht es die nächsten Tage den hohen Mont Lozère hinauf. Am Wegesrand stehen seltsam geformte alte Steine, die als Wegmarkierung an Nebeltagen dienten und dienen. Wir kämpfen uns gegen den Wind durch die unwirtliche Graslandschaft. Beim steilen Abstieg verändern sich Klima und Vegetation. Die eigentlichen Cevennen beginnen. In Pont-Montvert fällt das südliche Flair auf: In Straßencafés sitzen Althippies mit langen weißen Haaren und spielen Gitarre. Auf dem Markt gibt es frischen Ziegenkäse. Das war schon Stevenson aufgefallen: „Der Ort mit seinen Häusern, seinen Gassen, seinem glitzernden Flussbett hatte eine nicht zu beschreibende südliche Note.“ Von Pont-Montvert aus führt ein schmaler, mit Steinen gepflasterter Fußpfad in Serpentinen den Berg hinauf, es geht durch Wald und dichte Farne, über Bergbäche bis nach Florac. Dort endet unsere Reise. Im Schulbus fahren wir an tief eingeschnittenen Schluchten vorbei bis nach Alès, und von dort aus mit der historischen Eisenbahn zurück nach Le Puy.

Robert Louis Stevenson übrigens verfehlte 1878 sein Ziel Alès knapp. Er kam bis St. Jean du Gard und nahm dann die Postkutsche. Ein halbes Jahr nach seiner Reise in die Cevennen fuhr er seiner Liebe Fanny Osbourne nach Amerika hinterher und heiratete sie 1880 nach ihrer Scheidung. Die beiden blieben bis zu seinem Tod zusammen. 1881 schrieb Stevenson für seinen Stiefsohn Lloyd „Die Schatzinsel“, das Buch, das ihn weltberühmt machen sollte.

Robert Louis Stevenson: „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“. Hrsg. und ins Deutsche übertragen von Ulrich C. A. Krebs. Mit Vignetten und Bildern nach Radierungen von Edmund Blampied. Diederichs, 2. Aufl. 1995 (vergriffen). Association „Sur le chemin de Robert Louis Stevenson“, F 48220 Pont de Montvert, Tel. und Fax 0466458631, E-Mail: asso.stevenson@libertysurf.fr Die Stevenson-Gesellschaft gibt auch einen Prospekt mit Übernachtungsmöglichkeiten heraus. Anreise: Mit Zug oder Auto bis Le Puy. Reisezeit: am besten Frühjahr oder Herbst. Wanderdauer für den gesamten Weg: ca. 14 Tage (mit Pausen)