Eine Agenda für die Konjunktur

Konjunktur beleben (3): Expansive Finanzpolitik ist sinnvoll. Es gibt keine Erblast durch Staatsschulden, weil die künftigen Generationen von heutigen Investitionen profitieren

… um 10 Prozenterhöhen würden,dann wäre mit einemfuriosen Aufschwung zu rechnen

Nach drei Jahren Stagnation bewegt sich die deutsche Konjunktur derzeit auf der Kriechspur. Dieses Jahr werden erneut knapp 100.000 Jobs verloren gehen. Dafür sorgen ein viel zu niedriges Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitsleistung – der Produktivität – sowie die Ausweitung der Arbeitszeit um insgesamt ein halbes Prozent. Die Stagnationsökonomie mit Massenarbeitslosigkeit schlägt voll auf die öffentlichen Haushalte durch. Sinkende Steuereinnahmen infolge der wirtschaftlichen Wachstumsschwäche sowie steigende Kosten der Arbeitslosigkeit reißen Löcher in die öffentlichen Haushalte. Laut der jüngsten Steuerschätzung fehlen allein in diesem Jahr mehr als 8 Milliarden Euro gegenüber den Prognosen des letzten Herbstes. Konjunkturelle Schwäche und kaum noch kalkulierbare Steuerrechtsänderungen führen zu diesem Aderlass.

Ganz offensichtlich sind die binnenwirtschaftlichen Kräfte geschwächt worden. Die Agenda 2010 etwa hat Kaufkraft reduziert, ja vernichtet. Steigende Kosten im Gesundheitssystem, der freiwillige Zwang zum Sparen für die Altersvorsorge oder auch der Marsch in den Niedriglohnsektor haben die geringen Kaufkraftimpulse aus den Steuersenkungen überkompensiert. Und das Sparen aus Angst um den Jobverlust wurde durch die erfolglose Agenda-Politik noch weiter angeheizt.

Rechtfertigungen nach dem Motto, die Agenda 2010 habe ihre segensreichen Kräfte nur noch nicht entfaltet, sind peinlich und rechthaberisch. Immerhin wird derzeit auch zugegeben, die neoliberale Wende sei zur konjunkturellen Unzeit gekommen. Dieses Eingeständnis greift jedoch viel zu kurz. Nicht nur die konjunkturelle Erholung wird durch die Agenda 2010 blockiert; die scheinbar unternehmensfreundliche Strategie führt mittelfristig zu nicht mehr einholbaren Wachstums- und Beschäftigungsverlusten.

Wir erleben eine nachfragebedingte Wachstumsschwäche, nicht eine Strukturkrise, die am Ende allerdings strukturelle Verwerfungen hinterlässt. Die rot-grüne Politik beschränkt sich nicht nur auf die Belastung der privaten Konsumnachfrage. Die restriktive Finanzpolitik wirkt als zusätzlicher Konjunkturkiller. Kürzungen öffentlicher Ausgaben im Konjunkturtal lösen sich vervielfachende Nachfrage- und damit Absatzverluste aus. Die so genannte Konsolidierungspolitik gleicht dem Rennen zwischen Hase und Igel: Der Abbau der öffentlichen Neuverschuldung über Ausgabenkürzungen beschert der Wirtschaft Umsatzverluste. Am Ende lösen die ausfallenden Steuereinnahmen sowie wachsende Krisenkosten höhere Defizite aus. In diesem Teufelskreis bewegt sich die Bundesregierung schon seit mehreren Jahren. Allmählich dämmert den Akteuren, dass das Konzept nicht aufgehen kann.

Wie tief muss eine Beschäftigungskrise denn noch ausfallen, damit das Scheitern der neoklassischen Angebotspolitik endlich erkannt wird? Deutschland lebt nicht über, sondern unter seinen ökonomisch-technologischen und sozialen Möglichkeiten. Würden sich die Unternehmen in einem Akt des kollektiven Erbarmens mit der Krisenlage entschließen, gleichzeitig ihre Investitionen um etwa 10 Prozent zu erhöhen, es wäre mit einem furiosen Aufschwung zu rechnen. Diese kollektive Leistung kann von den auf einzelwirtschaftliche Rationalität verpflichteten Unternehmen jedoch nicht erwartet werden. Einen kollektiven Nachfrageschub vermag einzig und allein der Staat mit seiner strategischen Stellung in der Gesamtwirtschaft zu erzeugen. Er muss mit einer Inszenierung eines gleichzeitig auf Zukunftsprojekte ausgerichteten Wirtschaftswachstums die Lückenbüßerfunktion übernehmen.

Die Inszenierung von Wirtschaftswachstum erfolgt auf zwei Bühnen: Erstens muss private Kaufkraft durch Senkung der Steuerbelastung der Bezieher von Masseneinkommen und die Rücknahme des Sozialabbaus gestärkt werden. Zweitens muss die Finanzpolitik expansiv ausgerichtet werden.

Die gegen das Instrument der öffentlichen Kreditaufnahme ins Feld geführte Theorie der rationalen Erwartungen ist eher ein Hirngespinst: Unternehmen, die durch die Ausweitung ihrer Umsätze in den Genuss der Programme kommen, werden sich von Spekulationen über möglicherweise steigende Steuern zur Finanzierung der Zinslasten nicht verrückt machen lassen. Bisher brachliegendes sowie auf in- und ausländischen Finanzmärkten untergebrachtes, also „vagabundierendes“ Kapital wird durch den staatlichen Impuls für die unternehmerische Wertschöpfung eingesetzt. Die Sinnhaftigkeit eines solchen schuldenvorfinanzierten Investitionsprogramms wird schließlich mit der Stammtischparole von Erblasten zu tabuisieren versucht. Dabei vergisst man die Tatsache, dass nicht nur die Staatsschulden, sondern Vermögen in Form von Staatsschuldtiteln vererbt werden, d. h., in jeder Generation muss die Verteilung zwischen zinszahlenden öffentlichen Haushalten und Zinsempfängern organisiert werden.

Maßgeblich dafür ist die in der jeweiligen Generation machbare Wertschöpfung. Mit der Erblast-These wird die entscheidende Frage, was mit öffentlicher Kreditaufnahme finanziert wird, völlig verdrängt. In dem Ausmaß, in dem künftige Generationen von heutigen Infrastrukturinvestitionen profitieren, können diese durchaus zur Finanzierung herangezogen werden.

Wenn die Unternehmen ihreInvestitionen ineinem Akt kollektiven Erbarmens …

Über die Staatsverschuldung hinaus ließe sich dieses Sofortinvestitionsprogramm auch durch die Erhöhung der Steuerlast für Einkommens- und Vermögensstarke finanzieren. Für gesellschaftlich wichtige Zwecke wird vagabundierendes Einkommen und Kapital durch den Staat abgeschöpft und per Ausgabenprogramm an die Gesamtwirtschaft weitergegeben. Jedenfalls steht fest, dass weitere Steuersenkungen bei den Einkommensstarken und Vermögenden die Spaltung zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum vertiefen würden.

Der Staat muss zur Erfüllung seiner Aufgaben wieder mit ausreichender Finanzkraft ausgestattet werden. Dazu gehören die verfassungskonforme Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Wiederbelebung der Vermögensteuer sowie Maßnahmen zur konsequenten Besteuerung – also die Abschaffung des vor den Finanzämtern schützenden Bankengeheimnisses – und die nachhaltige Bekämpfung der Steuerkriminalität. Was der Staat an Steuern einnimmt, gibt er der Gesamtwirtschaft über seine dringlichen Ausgaben auch wieder zurück. Allerdings wird eine optimale Wachstumspolitik wegen der steigenden Arbeitsproduktivität nicht ausreichen, die Arbeitslosigkeit massiv abzubauen. Die Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung gehört zur Agenda einer alternativen Wirtschaftspolitik.

Es gibt eine Alternative zur Politik einer Schrumpfökonomie. John Maynard Keynes ist seit 1946 tot. Dass seine Theorie der gesamtwirtschaftlichen Analyse lebt, wird durch die krisenhaften Folgen ihrer Nichtanwendung belegt. RUDOLF HICKEL