Ein schwieriger, sprunghafter Ökonom

Seit der Finanzkrise sind Steuerungsmodelle wieder interessant. Das hatte schon der SPD-Politiker Karl Schiller begriffen, der in den 60ern eine auf Keynes basierende Wirtschaftspolitik fuhr. Jüngst ist in Hamburg eine Biographie über ihn erschienen

Er ist eine wirtschaftspolitische Legende, auf die man sich in der Krise gern besinnt: Karl Schiller. Allein der Name des SPD-Wirtschafts- und Finanzministers der großen Koalition der 1960er Jahre weckt Erinnerungen an das goldene Zeitalter westlicher Wohlfahrtsstaaten. An eine Zeit, in der es gelang, die soziale Marktwirtschaft mit einer antizyklischen staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik und einer „Globalsteuerung“ präventiv gegen Krisen abzufedern – auch mit Eingriffen in das freie Spiel der Kräfte. „Markt soweit möglich, Plan soweit nötig“, lautete einer von Schillers Leitsätzen. Einer, der angesichts von außer Kontrolle geratenen Finanzmärkten und hektischen Diskussionen um Konjunktur- und Rettungspakete ein Modell verheißt, das auf einmal wieder modern erscheint.

„Er hat uns etwas zu sagen“, behauptet Uwe Bahnsen, Autor einer Schiller-Biografie, die jüngst in Hamburg erschien. Er zeichnet darin den Lebensweg jenes 1994 verstorbenen legendären „Genossen Generaldirektors“ nach. Der Beginn seiner Karriere als Hamburger Wirtschaftssenator kommt dabei ebenso zur Sprache wie sein weiterer Weg, der ihn über das Amt des Berliner Wirtschaftssenators an der Seite Willy Brandts in der ersten Rezession der Bundesrepublik als Wirtschafts- und später zudem Finanzminister nach Bonn führte. Das Ende seiner politischen Laufbahn, als er sich mit seiner Partei überwarf und 1972 das Bundeskabinett verließ, auch.

Bahnsens Buch ist keine ausführliche Auseinandersetzung mit Schillers ökonomischem Lebenswerk, keine Abhandlung auf der Suche nach dem richtigen Krisenmanagement in schwierigen Zeiten – zumal die Drucklegung vor den jüngsten Zuspitzungen erfolgte. Es ist eine zumeist wohlwollende, gut recherchierte Zusammenstellung der wichtigsten Lebensstationen eines Politikers, der einen großen Teil seines Wirkens in Hamburg verbrachte.

Dort vollzog der Professor für Volkswirtschaft an der Seite von Bürgermeisterlegende Max Brauer in der Nachkriegszeit den Sprung in die praktische Politik, entwickelte mit 37 Jahren Konzepte für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Wirtschaft der Stadt. Hier traf er in der Wirtschaftsbehörde auf den jungen Helmut Schmidt, mit dem er sich prompt überwarf. Nach der Niederlage der SPD bei der Bürgerschaftswahl 1953 wechselte er zurück in den wissenschaftlichen Betrieb und wurde 1956 Rektor der Hamburger Universität. Und nach dem Ende seiner politischen Laufbahn kam er Mitte der 1970er Jahre zurück an die Elbe, um als „volkswirtschaftlicher Berater“ des Axel-Springer-Konzerns zu arbeiten.

Schiller war – so das nicht überraschende Urteil des Autors – stets ein intellektueller Grenzgänger. Einer, der sich kaum um Ideologien und gar nicht um Befindlichkeiten seiner Partei scherte und trotzdem bis zum Ende der 1960er Jahre einer der populärsten Politiker der Bundesrepublik und der einflussreichste Ökonom des Landes wurde. Einerseits war er arrogant und in der SPD teils regelrecht verhasst, vier Mal verheiratet, privat wie beruflich sprunghaft. Andererseits war er ein geschickter PR-Stratege, ein begnadeter Spin-Doktor in eigener Sache und ein Experte in Wirtschaftsfragen.

Geprägt von seinen traumatischen Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre habe Schiller die Abhängigkeit zwischen einer funktionierenden freien Marktwirtschaft und gesellschaftlicher Stabilität vortrefflich verstanden, betont Bahnsen. Seine politisch-strategische Konzeption zielte daher darauf, marktwirtschaftliche Fehlentwicklungen schon präventiv einzudämmen – ohne der Illusion zu erliegen, der Staat könne alles richten. Er war es, der die Abkehr der SPD vom marxistisch inspirierten Planungs-Dogma Ende der 1950er Jahre mitgestaltete. Aber er war es auch, der während der großen Koalition und in der sozial-liberalen Nachfolgeregierung erfolgreich auf das Modell gezielter staatlicher Wirtschaftssteuerung setzte.

Mit Infrastrukturinvestitionen, billigen Krediten und steuervergünstigten Konjunkturprogrammen sollte der Staat gemäß der Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes der Wirtschaft im Abschwung auf die Sprünge helfen. Das von vielen Politikern damals wie heute verfolgte Ziel der Haushaltskonsolidierung sollte dabei zunächst zurückstehen. Die dabei eventuell angehäuften Schulden könne der Staat in der folgenden Aufschwungphase mit steigenden Steuereinnahmen wieder abtragen. Teil von Schillers Krisenmanagements war auch seine „Konzertierte Aktion“, bei der Regierung, Firmen und Gewerkschaften versuchen sollten, ihr Verhalten so abzustimmen, dass Wirtschaft und Gesellschaft auf ihre Kosten kommen.

Ob man von Schiller heute noch in jeder Hinsicht lernen kann, lässt Bahnsen offen. Die Frage, ob man mit den Konzeptionen des „Technikers des Wohlfahrtsstaats“ der 1960er Jahre in einem globalisierten Wirtschaftssystem noch erfolgreich agieren kann, beschäftigt den Biografen nicht. Aber zwischen den Zeilen lässt sich am Ende doch ein Quäntchen aktueller Relevanz herausfiltern. Kern von Schillers Erfolg sei sein nüchternes Urteil gewesen und sein Sinn für strategisches Handeln, sagt der Autor. So lehnte Schiller Aktionismus in Form kurzlebiger Konsumprogramme ebenso ab wie die Verharmlosung ökonomischer Krisen. „Vielen von uns erging es doch wie dem Mann, der im neunten Stock aus dem Fenster gefallen ist und der, beim ersten Stockwerk angelangt, ausruft: Bis jetzt ist doch alles gut gegangen!“, merkte er einmal an.

SEBASTIAN BRONST