das wort zum sonnabend
: Verlorenes Rederecht

Tief eingetaucht ist Kristo Šagor in Bremens Mix aus Nordischem und Klein-Berlin. Der Jungdramatiker ist seit Dezember vergangenen Jahres Hausautor am Bremer Theater. Am 6. Juli endet die Spielzeit. Für die taz holt er bis zum Schluss Perlen aus dem hanseatischen Schlick.

Lieber Ralf Hiller, wissen Sie eigentlich, dass Sie Ihren Ausweis verloren haben? „54. Ordentlicher Bundesparteitag Bremen / 16.-18. Mai 2003“ steht darauf und „Delegierter / Rederecht“ und „Neu denken. Jetzt handeln.“ und “Nordrhein-Westfalen 392“. Er lag vor mir im Regenmatsch. Mit dem rechten Fuß habe ich ihn erst neugierig hin- und hergeschoben, bevor ich ihn aufgehoben habe. Auch jetzt noch befinden sich schwarze Dreckpartikel unter der Plastikfolie. Mit einem Impuls irgendwo zwischen Ordnungstrieb und Raritätenschau habe ich ihn eingesteckt.

Ich erinnerte mich, einige Tage zuvor die Sendewagen der Fernsehsender auf der Bürgerweide gesehen zu haben. Mit einem irritierten Blick zur Anzeigetafel hatte ich mich informiert, was für eine Veranstaltung gerade stattfand. Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie und die anderen „Deligierten“ Ihrer Partei das Bild am Hauptbahnhof weit weniger geprägt haben, als die Teilnehmer der Karate-EM einige Wochen zuvor, die mit ihren verschiedenfarbigen Trikots, ihren unterschiedlichen Sprachen meist als stolze Kleingruppen auftretend, hier und da sogar mit einem Pokal bewaffnet, eine kleine surrealistische Performance hinlegten. Lieber Ralf Hiller, wissen Sie eigentlich, wie oft Ihr Ausweis vom Bundesparteitag inzwischen mit mir umgezogen ist? Vier Mal schon.

Und der fünfte Umzug steht bald bevor. Das erste Mal begleitete er mich, als ich meine Damen aus der Pusdorf-Woltmershausener-(Nicht-Neustädter) WG interimsweise verlassen musste, weil meine Mitbewohnerin T., in deren Zimmer ich wenige Tage zuvor gewechselt war, für eine Woche zurückkehrte. Das zweite Mal, als T. wieder für eine Woche verschwand und ich sofort das Zimmer der Mitbewohnerin meiner Freundin D. räumte, die übrigens in der Nähe der Stelle wohnt, wo ich Ihren Ausweis fand, und nach Pusdorf-Woltmershausen zurückkehrte. Das dritte Mal, als T. endgültig wiederkam und ich hierher auf den Teerhof wechselte. Das vierte Mal, als ich letzte Woche innerhalb des Gästehauses das Zimmer tauschte. Und bald wird er mit mir zurück nach Berlin ziehen. Ein bereister Ausweis also, aber sicherlich nicht halb so bereist wie ein “Deligierter / Rederecht“ selbst.

Lieber Herr Hiller, ich hoffe, Sie haben keine Schwierigkeiten mit dem Sprechen, jetzt, nachdem Sie Ihr Rederecht verloren haben? Ich stelle mir vor, wie Sie aufgebracht und in voller Absicht den Ausweis zu Boden schleuderten, nachdem es Ihnen auf dem Parteitag nicht gelungen war, irgendeinen Punkt anzubringen, und in unbefristeten Schweigeprotest traten. Was für ein schöner Gedanke: Ein Politiker, der die Schnauze hält und einfach nur freundlich lächelt. Kristo Šagor