Was uns der Meister wert ist

Sie macht sich Sorgen, dass es immer weniger Schuhmachermeister gibt

Brigitte Bachmeir nimmt ein Stück Glas, ritzt es an und bricht eine Scherbe ab. Dann schärft sie damit das Leder. Aus dem Lappen soll einmal die Hinterkappe eines Schuhs werden. An der Ferse muss das Leder dick bleiben, an den Seiten dünn, um ohne Wulst vernäht werden zu können. Als Lehrling „schnitzt du dich tagelang deppert, um das glatt zu kriegen“, sagt sie. Den Trick mit der Scherbe hat sie erst in der Meisterausbildung verraten bekommen. Das Glas funktioniert wie ein Hobel, schält, raspelt, nimmt die kleinste Unebenheit mit. Das Leder ist scharf.

Brigitte Bachmeir führt den Schusterladen um die Ecke. Es riecht nach Schuhwichse, ein bisschen nach Schweißfüßen, und der einzige Farbklecks in der dunklen Werkstatt ist das Verbotsschild, auf dem ein Plateauschuh durchgestrichen ist. „Reißender Absatz“ hat Bachmeir ihren Laden in der Kreuzberger Fidicinstraße genannt – wie ein trotziger Kommentar auf das Geschäft, das sie damit macht. Eigentlich ist sie Maßschuhmacherin. Doch sie nimmt jeden Auftrag an. Eben schleppt ein Mann die lederbezogene Rückenlehne aus einem alten Mercedes durch die Tür. Die Nähte sind geplatzt und müssen mit der Hand genäht werden. Er wird an diesem Tag der einzige Kunde bleiben.

„Ick hatte schon Tage, da hab ich nur Sekundenkleber in der Hand“, erzählt die Schusterin, die eigentlich aus Schrobenhausen, der bayrischen Spargelgegend, stammt. Immer wieder presst sie Berliner Wortschatz in ihren süddeutschen Tonfall, das macht ihre Stimme exotisch. Und eine Exotin ist Bachmeir auch im Berliner Schuhmachergewerbe, nämlich fast die einzige Frau und mit 41 Jahren eine der Jüngsten in der Innung. Und eine der wenigen, die mit Überzeugung noch ihren kleinen Laden aufhält. Doch das geht nur, weil Brigitte Bachmeir noch als Schuhmacherin an der Deutschen Oper angestellt ist. Nach der Arbeit dort, um 17 Uhr öffnet sie ihre Schusterei.

„Man muss schon besessen sein“, um heute noch Schuhmacher zu werden, sagt sie. Und wer Schuhe so liebt, der werde auch seinen Meister machen, Meisterzwang hin oder her. Der soll, so will es die Bundesregierung, für die Schuhmacherei ebenso wie für das Friseurhandwerk, die Maler oder die Goldschmiede fallen. Nur in Berufen, bei deren Ausübung Gefahren für Dritte entstehen können, so genannte gefahrgeneigte Handwerke wie Elektroinstallation, Zahntechnik oder Schornsteinfegen, sollen nur Meister einen Betrieb führen dürfen.

Bachmeir ist nach der Gesellenprüfung nur weiter in die Lehre gegangen, weil sie sich „legalisieren wollte“. Sie hatte diesen kleinen Laden gefunden. Doch mit der Ausbildung, erzählt sie, habe sich ihr das Maßschuhhandwerk erst eröffnet. „Als Geselle klebt man doch nur.“ Dass der Meister keine Pflicht mehr sein soll, um sich selbstständig zu machen, werde doch vor allem wegen der Europäisierung angestrebt. Auch im Meisterprüfungsausschuss, in dem sie mit sitzt, habe sich niemand groß darüber aufgeregt. Und sie ist sicher: „Wer 1.000-Euro-Maßschuhe haben will, der geht nach wie vor zum Meister.“

Viel mehr, als dass der Meisterzwang in ihrem Metier abgeschafft werden soll, beschäftigt sie, dass schon heute die Meister aussterben. „Das Durchschnittsalter bei uns in der Innung ist mindestens sechzig.“ Es gebe nur noch wenige, die sich selbst als Lehrlinge die Finger am Leder blutig geschnitten hätten und das Handwerk auf „althergebrachte Weise“ weitergeben könnten. Es sei bereits so, dass die Rentner an den Wochenenden Workshops für Lehrlinge anböten und ihnen zeigten, dass man Schuhe auch ohne Kleber herstellen kann, stattdessen mit Nadel und Pechfaden. Oder eben, wie nützlich eine Scherbe sein kann.

JÖRN KABISCH