Kettenreaktionen des Alltags

Kurzweil im Concordia: Mit „Clip“ entdeckt Urs Dietrich den Zeitraffer für den Tanzboden

Sein Lieblingssender, hat Warhol zu Beginn des Kabelfernsehens gesagt, sei einer, der täglich 24 Stunden eine Straßenecke zeigt. Derweil Warhol seine helle Freude daran gehabt haben dürfte, wenn weitgehend nichts passiert, interessiert sich Urs Dietrich in seiner Uraufführung „Clip“ eher für das Viel und Nebeneinander.

Die Versuchsanordnung ist denkbar einfach: Man braucht einen öffentlichen Ort, neutral genug, die Konzentration auf menschliche Formationen nicht zu unterlaufen. Und eine starre Kamera. Man verknappe die 24 Tagesstunden zu 60 Minuten. Und schon hat man den Zeitraffer für den Tanzboden erfunden. Kurzweilig läuft ein Archiv menschlicher Handlungen vor den (Kamera-)Augen ab. In den Körpern ist Mimisches, Gestisches und Sprachliches gespeichert, das – willentlich, unwillkürlich – hervorgeholt wird. Mit ausgeprägtem Gefühl für Wiederholung und Taktung widmet sich Dietrichs choreographische Dokumentation dem zufällig Beobachteten.

Mit oft sehr kleinteiligen Bewegungsfolgen, extrem rhythmisiert, fast durchgehend schnell und mit für zeitgenössischen Tanz erstaunlich deutlichem Akzent auf den Fingern als kleinste Einheiten des Gestischen, gruppiert „Clip“ ständig wechselnde Formationen um eine Schlüsselszene herum: den menschlichen Markt- und Tummelplatz. Mittagspause und Lebenselixier. Gruß und Kuss, Streicheln, Fauchen, Rennen und Innehalten. Eine Kettenreaktion, die mehr Zustände bindet, als man auf einen Schlag aufnehmen könnte.

Die kleinen speisen sich aus den großen Gesten. Mithin aus dem großen Kino. Sie haben sich hineingeschraubt in unseren Alltag. Von Marlene Dietrichs lasziv gewinkelten Beinen bis zu Sharon Stones gespreizten Schenkeln gelangt ein wunderschönes Solo in kaum 30 Sekunden. Einer läuft durch den Bühnenraum, geduckt, verängstigt, jammernde Laute herauspressend. An wieder anderer Stelle hält eine Duo-Bewegung in einer Umarmung inne. Nähe und Vertrautheit werden, zunächst kaum merklich, zu eng. Bis sich eine Tänzerin aus der Umarmung windet, um die Partnerin herumgeht und distanziert den leeren Ring betrachtet, den deren Arme bilden.

Die Auswahl der Musik kommt deutlich weniger auf den Punkt als bei den bisherigen Dietrich-Produktionen. Man kann auch anmerken, dass es gegen Ende des Beobachtungszeitraumes arg akrobatisch wird. Oder, dass sich die (fingierten) körperlichen objets trouvés der „neutralen“ Beobachtung irgendwann entziehen und zur end- und ziellos dahinfließenden Reihe werden. Doch dann weht wieder ein Bild vorbei, dass ungemein bestechend ist. Etwa: Eine Tänzerin läuft quer über die Bühne ihrem Partner entgegen. Und genau in dem Moment, da sie ihm in die Arme fallen oder springen müsste, beugt er sich nur ein wenig vor, schürzt die Lippen und pustet sie ganz vorsichtig von sich fort. Sie biegt sich nach hinten, beginnt wie ein Blatt im Wind zu trudeln. Und ist auch schon wieder raus aus dieser kurzen Sequenz – auf dem Weg in eine andere Konstellation, eine andere Bewegung, die eine noch ungesehene Geschichte in sich birgt.

Neben verlässlich präzisen Bildern besticht vor allem eines: Das mediale Crossover gelingt, weil „Clip“ gänzlich ohne Projektionen, Leinwände und Kameras auskommt. Ein reiner Tanzraum und ein äußerst flexibles Ensemble genügen Dietrich für seine Hommage an den Dokumentarfilm, der eigentlich essayistisches Kino ist. Beide Kunstformen treffen sich dort, wo in Bildern gedacht wird. Poetisch, laut mitunter, präzise – und sehr kurzweilig. Tim Schomacker

Nächste Termine: 19., 21. und 28.5. (20 Uhr) im Concordia