Der unbequeme Freund

Günter Gaus gehörte zu einer Minderheit, meint der Hamburger Anwalt Heinrich Senfft. Er versuchte aufzuklären – mit überraschender Geduld

Es wird langweiliger werden ohne ihn, in der noch immer zunehmenden Mittelmäßigkeit in diesem Land

von HEINRICH SENFFT

Er hat uns gewarnt. Schon zu Beginn seiner Krankheit vor fast fünf Jahren hat Günter Gaus versucht, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er sie vielleicht nicht überleben werde. Bereits sein 70. Geburtstag war davon überschattet. Ich konnte mit der Vorstellung schon damals nicht fertig werden. Meine Frau wies mich darauf hin, dass ich in meiner kleinen Geburtstagsrede in Berlin mehrfach wiederholte, wir müssten nun aber wieder zur Tagesordnung übergehen – eine hilflose Formulierung, um Normalität zu beschwören.

Wir sind dann ziemlich bald zur Tagesordnung zurückgekehrt, und er machte es uns leicht, er jammerte oder klagte nie, er versuchte mit Hilfe seiner Familie ein so normales Leben wie möglich zu führen, und er arbeitete immer weiter. Er gab nicht auf, das war nicht seine Art. Und wir glaubten, wollten glauben, er habe es geschafft. In den letzten vier Jahren hatten wir uns gern daran gewöhnt, ihn – wenn man von Störungen absah, die wir nicht wahrhaben wollten – als Gesunden zu behandeln. Er kehrte auch, das war ein gutes Zeichen, zu seiner alten Angewohnheit zurück, wieder und wieder zu betonen, wie viel jünger er sei als ich.

Dann kam die schreckliche Nachricht der neuen Krankheit und die Operation, die er erst ganz gut überstanden zu haben schien. Nach einem 6-wöchigen Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung hat er den Kampf gegen den Krebs nun verloren. Da ich mit der Ewigkeit meine Probleme habe, schaue ich zurück, auf sein Leben, das mit seiner Frau Erika, der Tochter Bettina und der heiß geliebten Enkelin Nora, das seiner publizistischen und politischen Karriere und das unserer Freundschaft.

Es war Günter Gaus, nicht Helmut Kohl, der von der Gnade der späten Geburt gesprochen hatte – Kohl stahl ihm diese Formulierung, ohne sie verstanden zu haben. Wir beide, Gaus und ich, hatten das Glück, uns in der Nazizeit nicht entscheiden zu müssen – und wir haben diesen Krieg überlebt. Wir waren die erste Nachkriegsgeneration, die Musterschüler der Demokratie, denen alle Chancen offen standen. Gaus hat sie zu einer geradezu kometenhaften Karriere genutzt: Badische Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Südwestfunk, bei dem er die längst legendäre Reihe „Zur Person“ begann, die er bis zuletzt fortführte und über die viele – zu Recht – ins Schwärmen geraten.

In dieser Zeit, Mitte der Sechzigerjahre, lernten wir uns kennen. Es ist mir unvergesslich, wie ich schon bei unserer ersten Begegnung seine großen Hände wahrnahm und mir dachte: Da kann aber einer zupacken.

Es war ein Schlüsselerlebnis, als er und seine Frau zu Ostern 1968 bei meiner Mutter in Gärtringen waren und er mich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke von meiner Begeisterung darüber zurückpfiff, nun komme endlich Bewegung in dieses von CDU und Restauration geprägte und erstarrte Land der derzeit Großen Koalition. Da merkte ich, dass er – wie traditionell viele Sozialdemokraten – nicht nur ein im Grunde Nationaler, sondern ein linker Konservativer – oder konservativer Linker – war, der den Deutschen eher kleine Schritte als zu große Sprünge empfahl. Weise war das – und die Quintessenz aus der trübseligen deutschen Geschichte. Die kleinen Schritte – zu mehr reichte es ohnehin nicht – brachten wenigstens Willy Brandt an die Regierung.

Damals, 1969, wurde Günter Gaus Chefredakteur des Spiegel und kam nach Hamburg. Und von da an sahen wir uns immerzu. Das war das Jahr, in dem Kanzler Brandt begann, mit seiner Ostpolitik Ernst zu machen, das bisher hohle Gerede von den Brüdern und Schwestern „drüben“ mit Leben zu erfüllen. Und das begrüßte die so genannte Hamburger Kumpanei aus Spiegel, ZEIT und Stern, zu der auch ich als Anwalt von ZEIT und Stern gehörte, mit großer Überzeugung. 1972 kam dann die überwältigende Brandt-Wahl nach dem für Rainer Barzel misslungenen Misstrauensvotum. Und 1973 rief Brandt den Spiegel-Chefredakteur Gaus als Staatssekretär nach Bonn, um ihn als ersten Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in die DDR zu schicken – aber als er seinen Posten dort antrat, war Helmut Schmidt schon Kanzler – ein delikates und schwieriges Gespann.

Wie oft haben wir die Gausens in Ost-Berlin besucht und gelernt, dieses Land immer weniger mit den Klischee-Augen der Westdeutschen zu sehen, die kaum etwas über die DDR wussten und sich in Wahrheit auch gar nicht dafür interessierten. Sie sprachen zwar von der Wiedervereinigung, aber nur, weil sie sicher waren, sie werde nicht kommen. Dort hatte Gaus die Aufgabe seines Lebens gefunden, einen Posten, den es vorher noch nie geben hatte und der ihn so faszinierte und ausfüllte wie nichts zuvor. Er sah sich im Dienst des ganzen Landes und seiner Menschen, für die er sich leidenschaftlich einsetzte, auch wenn das oft sehr schwer war, weil die Deutschen beider Teile vom Kalten Krieg ideologieverklebte Augen hatten. Als Helmut Schmidt den Ständigen Vertreter kurz vor seiner eigenen Abwahl zurückholte, war die Ostpolitik unumkehrbar geworden – dies muss man auch zu Helmut Schmidts Ehre sagen, obwohl ihn die DDR nie wirklich interessiert hatte.

Schweren Herzens nahm Günter Gaus Abschied von der DDR und wurde ein paar Monate West-Berliner Wissenschaftssenator. Und dann schrieb und schrieb er, um uns darüber aufzuklären, was es mit der DDR und Deutschland überhaupt auf sich habe: „Wo Deutschland liegt – Eine Ortsbestimmung“, das erste Buch erschien 1983 und in dem er unter anderem den Begriff der „Nischengesellschaft“ prägte. Es war ein nötiges und wichtiges Buch – aber viel geholfen hat es nicht: Damals war Helmut Kohl schon Regierungschef, und das war die Zeit, in der die politische Isolation begann. Wie oft sagte Gaus, er stehe seit eh und je am selben Platz – aber fast alle anderen hätten ihn inzwischen so weit rechts überholt, dass er sich nun in der ganz linken Ecke wiederfände. Nur wenigen anderen erging es ebenso – die meisten hatten sich angepasst oder geduckt, denn bei der Mehrheit ist es ja so viel gemütlicher. Gemütlich hat Günter Gaus es nie gehabt.

Das wurde naturgemäß nicht besser, als 1989/1990 die so genannte Wiedervereinigung über uns kam. Plötzlich wussten alle Westdeutschen, wie die angeblichen Brüder und Schwestern im Osten 45 Jahre lang hätten leben sollen – und ließen es sie spüren. Wie viele glaubten – und glauben es auch heute noch –, dass 17 Millionen Stasi-Mitarbeiter einander gegenseitig in einem einzigen Gefängnis bespitzelten und es in der DDR gar kein normales Leben gegeben hätte? Wer mochte schon differenzieren? Gaus wollte. Er konnte gar nicht anders, aber er gehörte zu einer Minderheit. Unermüdlich, mit überraschender Geduld, hat Gaus aufzuklären versucht, hat viele DDR-Bürger in seiner Serie „Zur Person“ befragt. Er glaubte nicht an den neuen Menschen, aber er war ein Menschenfreund Es ist symptomatisch, wenngleich nicht ohne einen Anflug bitterer Ironie, dass ausgerechnet Sahra Wagenknecht zu den allerletzten gehörte, die bei ihm in einem einfühlsamen Interview zu Wort kam und hoch intelligente Antworten gab – nichts, was einen eingefleischten Westdeutschen in Rage hätte bringen müssen, hätte er denn unbefangen zuhören mögen.

Günter Gaus war ein zuverlässiger, immer reklamierbarer Freund, er hörte zu und man konnte mit ihm viel lachen und albern, essen und trinken, aber auch viel streiten. Er war ein scharfer Analytiker, aber auch sensibel, aggressiv und rechthaberisch, aber nie nachtragend oder gar unversöhnlich. Er war schüchtern, geradezu abweisend zärtlich, suchte die Harmonie und hat sie doch oft in Frage gestellt. Und man konnte wunderbar mit ihm und seiner Frau reisen – eine gemeinsame Andalusien-Rundfahrt wird uns unvergesslich bleiben. Auch er war das, was er vor ein paar Jahren von seinem Freund Heinz Schubert sagte: ein komplizierter Mensch.

Günter Gaus hat es nicht mehr geschafft, seine Memoiren zu Ende zu schreiben, sein größter Wunsch – und für uns ein Verlust, den niemand ersetzen kann.

Es wird langweiliger werden, und alle, die ihn liebten oder mit ihm befreundet waren, werden Mühe haben, sich ohne ihn einzurichten, in der noch immer zunehmenden Mittelmäßigkeit in diesem Land. Durch seinen Tod sind wir ärmer geworden – aber wir sind dankbar für viele wunderbare und immer interessante Jahre, wahrscheinlich die besten, die es in diesem schwierigen Land je gegeben hat.

Günter Gaus war ein sehr wichtiger Teil dieser Jahre. Ich habe meinen besten Freund verloren.