„Er war der Bundesbürger“

Als Hanseat war Günter Gaus verdorben durch die DDR, meint die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf, und doch verkörperte er die Bundesrepublik

Interview: PATRIK SCHWARZ

taz: Frau Wolf, war Günter Gaus Ostdeutscher?

Christa Wolf: Das ist ein Gedanke, der gar nicht so abwegig ist. Ich habe ihn mal „Wossi“ genannt und er hat es so entgegengenommen, wie ich es gemeint hatte: als Ehrenbezeichnung.

In Festreden zum 70. Geburtstag wie jetzt in Nachrufen wird er stets als typischer Hanseat bezeichnet. Wie kam’s, dass Sie ihn anders erlebten?

Persönlich habe ich ihn erst kennen gelernt, als er in der DDR Ständiger Vertreter der Bundesrepublik war. Unsere Beziehung wurde sehr intensiv, sehr eng in den Nachwendezeiten, und dabei konnte ich beobachten, wie er sozusagen verdorben war durch die DDR – als Hanseat verdorben. Er konnte sich nicht mehr als ein exklusiver Hanseat sehen und vor allem denken und fühlen.

Welches Gefühl ist ihm da in die Quere gekommen?

Ich habe oft erlebt, wie er Zuwendung, Zuneigung gegenüber Ostdeutschland empfand, wie er sich wohl fühlte unter Ostdeutschen etwa bei Lesungen. Das lag natürlich auch an der Zuneigung, die ihm von dort entgegen kam, man fühlte sich von ihm vertreten. Andererseits habe ich bei ihm erlebt: Erbitterung und Wut, wenn er den Eindruck hatte, dass ehemalige DDR-Bürger oder die ehemalige DDR durch Westdeutsche verkannt und misskannt wurden.

Was war der ostdeutsche Funke, der auf ihn übergesprungen ist?

Natürlich war es nicht das Enge, das dogmatisch Parteitreue, das er auch erlebt hat. Aber er hat – ich sage mal: sogar – bei Funktionären ein Engagement gespürt, das über Parteitreue hinausging. Vor allem aber hat er das Engagement bei den vielen Leuten gefunden, die ihm zu Freunden wurden, aus Kreisen der Kirche und der Künstler. Er und seine Frau haben ja in diesen Jahren ein Netzwerk aufgebaut rund um die Ständige Vertretung, das die beiden getragen haben, das sie aber auch trug. Er hat dieses Netzwerk gebraucht, genau wie wir es von ihm brauchten.

Was war es, was Sie brauchten von Günter Gaus – auch in Ihrer schwierigen Rolle einer DDR-Schriftstellerin zwischen staatlichem Zwang und innerer Freiheit?

Verständnis. Das war, was von ihm ausstrahlte. Bei Zusammenkünften in der Ständigen Vertretung, in größeren und kleineren Kreisen, ging von ihm ein starkes Verständnis für unsere Lage aus, Verständnis ohne Worte wie auch mit Worten. Wir waren ja immer auch im Selbstzweifel. Dieser Selbstzweifel wurde einem nicht genommen, aber es wurde einem gezeigt, dass durchaus von der anderen Seite auch gesehen werden konnte, in welcher Lage man war. Darin hat er uns gestützt.

Westdeutsche waren sich schon vor 1989 in ihren Urteilen über die DDR, den positiven wie den negativen, immer sehr sicher. Wie kommt es, dass der Botschafter, der in seinem Attaché-Köfferchen quasi die verbriefte Selbstgewissheit der Westrepublik mit sich trug, soviel Verständnis für den ostdeutschen Selbstzweifel mitbrachte?

Günter Gaus war kein einseitiger Mensch. Er war ja nicht nur Diplomat oder Journalist, er war auch ein Schriftsteller: Er war empfindsam und hat auf psychische Signale von der anderen Seite sehr fein reagiert. So hat er eben auch reagiert, wenn er von der anderen Seite, von unserer Seite, Bedürftigkeiten nach Verständnis empfand. Und er hatte, das muss man sagen, seine Frau an seiner Seite, die gerade diese seiner Eigenschaften sehr gefördert und gestützt hat.

Wie kam er klar mit der Doppelrolle, als Botschafter in einem Korsett zu stecken und sich damit in einem Netzwerk geistiger Freiheit zu bewegen?

Da will ich jetzt nicht für ihn antworten. Das kann ich nicht, leider müsste er das selber sagen. Aber mein Eindruck ist, dass er die Rolle als Diplomat so aufgebaut hat, dass er für beide Seiten das Beste herausholen wollte, dass er nicht einseitig die DDR oder ihre Vertreter übers Ohr hauen wollte. Er konnte etwas vertreten, was er wirklich mit Überzeugung vertrat: die Mittlerrolle. Die Brandtsche und Bahrsche Politik der Annäherung an die DDR war ja ein Hauptgrund, warum er diesen Posten angenommen hatte. Insofern glaube ich nicht, dass er sich in einem Zwiespalt fühlte.

Ist das nicht überraschend, wo selbst viele Ostdeutsche zerrissen waren?

Aber bei den DDR-Bürgern war es doch eine ganz andere Zerrissenheit. Gaus war ein Westdeutscher, ein Bundesbürger, das war er, wollte er sein und blieb er. Und er hatte die Aufgabe, diese beiden deutschen Staaten einander nicht als Staaten näher zu bringen, sondern Erleichterungen zu schaffen in der Kommunikation zwischen beiden Seiten. Er hat oft erzählt, er habe 17 Verträge ausgehandelt, und die haben nicht nur DDR-Bürgern geholfen, sondern beide Seiten, Ost und West, näher zusammen gebracht. Insofern hatte er wenig Grund, in Selbstzweifel zu geraten mit seiner Rolle.

Günter Gaus hatte Kritiker, viele sogar. Bezogen auf die Zeit vor 1989 lautet der Vorwurf, er habe sich das Urteil über die Ambivalenz, die die DDR kennzeichnete, zu leicht gemacht, indem er zu sehr Partei ergriffen hat für diesen Staat.

Das waren ja die Vorwürfe, die nach 1989 kamen. Sie hingen zusammen mit der Dämonisierung der DDR in den ersten Jahren nach der Wende. Da ist es ganz klar, dass ein Mann, der dieser Dämonisierung mit Zorn entgegentrat – durch Kenntnis entgegentrat! – in eine unglaubliche Klemme geraten musste. Was hat er immer von sich gesagt? Er sei ein konservativer Linker, das heißt jemand, der an linken Traditionen festhielt. Die Bundesrepublik dagegen ist in dieser Zeit nicht nur nach rechts gedriftet, sondern gerast. Er hat mal gesagt: Ich habe mich überhaupt nicht geändert, ich bin geblieben, wie ich war, nur die Bundesrepublik ist rechts an mir vorbeigelaufen.

Fast so viel wie über die Frage, was ostdeutsch sei und was westdeutsch, wird gestritten über die Frage, ob es das Konzept „links“ überhaupt noch gibt. War Günter Gaus einer der letzten Linken im Land?

Gestritten haben wir uns auch: Aber ich hoffe nicht, dass er einer der letzten Linken war. Also das wäre ja nun wirklich sehr traurig! Ich hoffe, dass es in Ihrer Zeitung noch Linke gibt. Auch die Wochenzeitung Freitag, deren Mitherausgeber Gaus war, kann man doch durchaus in einer linken Strömung sehen. Deshalb muss man nicht von Kommunismus oder Sozialismus oder anderen Ismen reden. Aber ich denke schon, dass es Ansätze von linkem Denken gibt in der Bundesrepublik.

Wenn man Gaus für einen Moment als Partei ansehen würde, dann wäre er sicher eine Programmpartei. Für welches Programm stand die Ein-Mann-Partei Günter Gaus?

(lacht) Das kann ich jetzt nicht sagen. Ich kann und will doch nicht für ihn von einem Programm sprechen. Das kann ich wirklich nicht.

Aber Parteien ebenso wie Publizisten wollen mit ihrem Programm ja wirken. Daher würde ich Sie ungerne so einfach entlassen aus der Frage: Was ist angekommen bei der eher bürgerlichen ostdeutschen Schriftstellerin vom Programm des konservativen Linken aus Westdeutschland?

„Bürgerlich“ sehen Sie mich? Sehr komisch – für mich war bei Gaus besonders wichtig sein radikal politisches Denken. Viele, viele Stunden hat er uns die Bundesrepublik erklärt, meinem Mann und mir und Freunden. Und Sie wissen, dass er vor wenigen Monaten einen Artikel geschrieben hat, in dem er erklärte, er sei kein Demokrat mehr. Der Grund dafür war ja, dass er ein so tiefer Demokrat war, dass er so tief an der Demokratie hing und eine so große Sorge hatte, dass sie verloren gehen könnte im Parteiengezänk, das die Demokratie unterhöhlt. Eine Radikalität war bei ihm im demokratischen Denken, das hat mir sehr imponiert, hat mir wirklich sehr sehr viel gegeben.

Hat so sein Programm Wirkung bei Ihnen gezeitigt: Sind Sie radikaler geworden in Ihrem Urteil über die Bundesrepublik, die ja – nolens, volens – auch Ihr Staat geworden ist?

Nein, das kann ich nicht sagen, dass nun ausgerechnet seine Radikalität auf mich abgefärbt hätte. Ich neigte eigentlich immer schon zu Radikalität im Denken. Vielleicht habe ich nicht immer radikal richtig gedacht, aber radikal – das doch. Und die Bundesrepublik hatte ich so ähnlich schon erlebt.

Wenn man sich umsieht, wer jetzt an Günter Gaus erinnert, stößt man vor allem auf Männer seiner Generation: Egon Bahr vielleicht, Erich Böhme, Wolfgang Ullmann. Mit Blick auf die jüngeren Generationen gefragt: Ist Günter Gaus mehr gewesen als ein alter großer Mann?

Das ist schwer zu sagen. Ich habe grundsätzlich den Eindruck, dass es einen Graben gibt zwischen meiner Generation, zu der auch Gaus gehörte, und den heute Jungen. Von seiner Seite war da immer viel Interesse. Ob jetzt junge Leute sich in sein Denken und seinen Lebensinhalt im selben Maße hineinversetzen wollen, ob das für sie überhaupt so interessant war und ist, das weiß ich nicht. Ich glaube immer, dass vielleicht nochmal eine Welle kommt, in der jüngere Leute Orientierung suchen bei Denkern wie Günter Gaus oder Ernst Bloch oder anderen. Deshalb hoffe ich ja sehr, dass das Buch, das er nun leider nicht fertig schreiben konnte, vielleicht doch als Fragment erscheint …

seine Erinnerungen …

… ja, ich kenne daraus Einiges. Es würde genau dazu beitragen: zu informieren, nicht nur junge Leute, und zweitens, Maßstäbe und Werte zu vermitteln.

Damit das nicht so erhaben im Raume steht – das ist ja für junge Leute wie mich eher schwierig –, würde ich gerne auf einer unkonventionelleren Note schließen: Wenn Sie die Botschaft des Lebens von Günter Gaus mit dem Medium der heutigen Jugend übermitteln wollten, dann hätten Sie dafür 180 Zeichen: Wenn Sie Gaus’ Botschaft verdichten sollten zu einer SMS, wie würde die lauten?

Den Versuch würde ich gar nicht erst unternehmen, denn durch die SMS würde der Gedanke verdorben. Ich habe kein Handy, das heißt, ich habe es, benutze es aber nie, sondern nehme es nur im Auto mit, falls mal ein Stau ist. So haben es Gaus und seine Frau auch gemacht. Nur wenn sie ins Ausland fuhren, hatten sie ein Handy und haben es eine Stunde oder zwei am Tag angeschaltet – aber bedient hat es immer seine Frau. Er hat weder eine Schreibmaschine noch einen Computer bedienen können. Er hat mit der Hand geschrieben, und seine Frau hat es übertragen. In diesem Sinne waren wir beide uns einig, dass wir ein bisschen in die Dinosaurierecke gehören, ganz ohne Selbstmitleid gesagt.

Und wie sollen dann seine Gedanken die Zukunft erreichen?

Da müssen sich junge Leute dann eben doch die Mühe machen, mehr als 180 Zeichen zu sich zu nehmen, wenn sie einen Menschen wie Gaus und was er ihnen – vielleicht – sagen sollte, erfassen wollen. Aber abgesehen davon, weil Sie von Erhabenheit sprachen: Für mich war eine der größten Verführungen mit ihm zusammen zu sein sein Humor. Wir haben wahnsinnig viel gelacht, wahnsinnig viel Witze erzählt. Und Günter Gaus hat so furchtbar gerne über Leute gelästert und ich ja auch. Wir waren nicht eine Sekunde erhaben, das kann ich wohl sagen.