Behutsam gegen Berlusconi

Italiens Regierung verstößt ständig gegen EU-Recht. Die Voraussetzungen für eine Unionsaufsicht wären gegeben. Doch ob diese Maßnahme klug ist, ist fraglich

Kein EU-Land darf seine Medien einer bestimmten Gruppe ausliefern, geschweige denn dem Premier

Es ist ein Paradox: Mit Silvio Berlusconi übernimmt morgen ein Regierungschef die Europäische Ratspräsidentschaft, gegen den bei seinem Amtsantritt als Premier des EU-Mitgliedslandes Italien im Jahre 2001 EU-Sanktionen diskutiert wurden. Solche Maßnahmen sind überhaupt nur dann denkbar, wenn bewiesene Verstöße gegen europäische Verfassungsgrundsätze vorliegen. Diese sind seit den Verträgen von Amsterdam und Nizza ausdrücklich im Artikel 7 des EU-Vertrages kodifiziert.

Demnach verstößt ein Mitgliedstaat dann gegen europäisches Verfassungsrecht, wenn er auch nur in die Nähe totalitaristischer Strukturen gerät. Die Europäische Union kann inzwischen von ihren Mitgliedstaaten genauso verfassungsrechtliche Mindeststandards fordern wie die Bundesrepublik von ihren Bundesländern. Das Vorliegen eines Verstoßes wird dabei nicht nur nach dem formellen Gesetzesrecht beurteilt, sondern auch nach dessen konkreter Anwendung, nach der Verfassungswirklichkeit also.

Berlusconis Italien verstößt vor allem in vier Bereichen gegen europäisches Recht: bei der Medienmacht des Premierministers, der Missachtung des eigenen Verfassungsgerichts, der Instrumentalisierung des Parlaments und bei Eingriffen in die Unabhängigkeit der Justiz.

Berlusconi beherrscht insgesamt zirka 90 Prozent des italienischen Fernsehens, sowohl des privaten als auch des staatlichen. Hinzu kommen Zeitschriften- und Buchverlage, Filmproduktionsfirmen und vieles mehr. Echte Kritik ist nur noch in Kleinst- und Regionalverlagen möglich – gegen die der Premier seit neuestem mit millionenschweren Klagen vorgeht, um sie zu ruinieren. Ebenso zögerte Berlusconi weder 1994 noch 2001, sich seiner privaten Propagandamaschine zu bedienen und auf diese Weise die Macht in Italien zu erlangen.

Dieser Zustand verstößt gegen die europäische Rundfunkverfassung. Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, in ihrem Land die Voraussetzung für ein Mindestmaß an Informations- und Meinungsvielfalt zu schaffen. Insbesondere darf kein Land der Europäischen Union sein Rundfunk- und Pressewesen einer bestimmten Gruppe ausliefern, geschweige denn dem Regierungschef. Da es Berlusconi seit seinem Regierungsantritt nicht nur unterließ, die gebotenen Maßnahmen zur Sicherung der Meinungsfreiheit zu treffen, sondern ganz im Gegenteil seinen Einfluss auf die italienischen Medien sogar weiter ausbaute, liegt ein evidenter Verstoß gegen europäisches Recht vor. Berlusconis Aufstieg zum Medienzaren war nur möglich, weil Italiens oberste Staatsorgane bis heute etlichen Urteilen des Corte Costituzionale (CC) zuwiderhandeln. Egal welche Gesetze man die letzten zwanzig Jahre schuf, Berlusconis drei „Hofsender“ – das eigentliche Ärgernis für das Verfassungsgericht – blieben bis heute unangetastet. Diese Missachtung des Verfassungsgerichts stellt ebenfalls einen Verstoß gegen europäische Prinzipien dar. Denn die Beachtung verfassungsgerichtlicher Grundsatzurteile durch die Staatsorgane gehört ebenfalls zum gemeineuropäischen Rechtsbestand. Eine primär über die Geltung des Rechts laufende europäische Integration ist auf den Respekt der einzelnen Regierungen vor ihrer eigenen Verfassung angewiesen.

Gegen Berlusconi liefen und laufen bekanntlich etliche Ermittlungsverfahren wegen Untreue, Bilanzfälschung, Korruption, Geldwäsche und anderer Mafiaverbrechen. Um Verurteilungen zu entgehen, änderte der Premier in den vergangenen zwei Jahren mit seiner Stimmenmehrheit in Parlament und Senat ein Gesetz nach dem anderen. Mit dieser Indienstnahme der Volksvertretung schaffte der Premier de facto die Geltung des Rechts ab, soweit es seinen privaten Interessen zuwiderläuft. Da die rule of law und damit die Gleichheit aller vor dem Gesetz zu den fundamentalsten Prinzipien der EU gehört, stellt dies den schlimmsten Verstoß gegen den EU-Vertrag dar. Denn hier versündigt sich Berlusconi gegen die Legitimation des modernen Verfassungsstaats selbst: die Ausübung der Staatsgewalt als Treuhänder für das Volk.

Mit Versuchen zur Einschüchterung der Justiz handelt Berlusconi wider das Gewaltenteilungsprinzip und damit ebenfalls gegen die im EU-Vertrag genannten Kernprinzipien des europäischen Verfassungsstaats. Im Gegensatz zu den anderen Verstößen blieb es aber hier bisher im Großen und Ganzen beim Versuch, nicht zuletzt wegen des überwältigenden Protestes vieler Juristen, die mit beachtlichem Erfolg um den Erhalt ihres Justizsystems kämpfen.

Im Italien des Silvio Berlusconi liegt damit erstmals in der Geschichte der EU ein klarer Bruch mit europäischen Verfassungsprinzipien vor. Die Voraussetzungen für die mit vier Fünfteln Mehrheit der Mitgliedstaaten einzuleitende Unionsaufsicht wären gegeben. Ein solches Vertragsverletzungsverfahren liefe in drei Phasen ab: Zuerst käme ein so genannter Vorfeldbeschluss, in dem die Union einen intensiven Dialog führen und die Situation genau beobachten würde. Sanktionen wären in diesem frühen Stadium nicht zulässig. Hierfür müsste die EU erst noch in einem ausdrücklichen Beschluss den Verstoß Italiens gegen die EU-Grundsätze feststellen, um dann im dritten Schritt tatsächlich Sanktionen wie die Kürzung von EU-Mitteln oder den Ausschluss vom Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zu beschließen.

Berlusconi beherrscht insgesamt zirka 90 Prozent des staatlichen und privaten Fernsehens in Italien

Allerdings gebietet die heterogene EU einen behutsamen Einsatz dieses Instruments. Ein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Laboratoriums Italiens im Sinne des Subsidiaritätsprinzips wäre allemal besser als der oft als imperialistisch empfundene Eingriff aus Brüssel. Die beachtlichen Proteste und Gegenbewegungen in Italien selbst inklusive der so wichtigen Richterschaft sprechen also gegen eine Intervention. Außerdem verfügt Europa auch unterhalb des hochpolitischen Unionsaufsichtsverfahrens über gewisse Einwirkungsmöglichkeiten. So lässt etwa die italienische Staatsanwaltschaft derzeit vom Europäischen Gerichtshof prüfen, ob die selbst verordnete Amnestie Berlusconis durch die Abschaffung des Bilanzstrafrechts mit europäischem Bilanzrecht vereinbar ist.

Diese Verfahren sind als komplementär zur Unionsaufsicht zu sehen. Entgegenstehen könnte einer solchen Aufsicht aber das Recht Italiens auf politische Selbstbestimmung, weil sich Sanktionen leicht als politische Parteinahme für das gegen Berlusconi 2001 unterlegene Ölbaumbündnis interpretieren ließen. Hier lässt sich jeder Verdacht ausräumen, wenn man klar sagt, worum es geht: nicht gegen Berlusconi, sondern für eine Einhaltung der Verfassung.

Vor diesem Hintergrund erscheint es ratsam, in flexibler Handhabung des neuen Artikel 7 des EU-Vertrages erst einmal einen Vorfeldbeschluss zu erlassen. Dieser wirkt sich nicht auf Italiens Mitgliedschaftsrechte in der EU aus und bedeutet noch keinerlei Verurteilung. Ein solcher Beschluss würde lediglich die Sorge der EU über die Zustände in Italien ausdrücken und die Basis für einen intensiven Dialog bilden. CHRISTOPH PALME