Der Kulturkampf von Kreuzberg

Ein unscheinbarer Marienaltar erzählt davon, wie sich vor 100 Jahren polnische Zuwanderer ein Stück Heimat erkämpften – gegen einen braven Pfarrer und einen eisernen Kanzler

VON IZABELA JOPKIEWICZ

Er ist blau und rosa gestrichen und etwas schlampig vergoldet. Der kleine, unauffällige Altar rechts vom Eingang der St.-Marien-Liebfrauen-Kirche in der Kreuzberger Wrangelstraße fällt kaum auf. Nur selten erweckt er das Bedürfnis, ihn zu betrachten.

Das mag ein Fehler sein. „Die Kunsthistoriker schätzen dieses Werk nicht hoch ein, und sicher haben sie Recht dabei“, räumt Olaf Polossek, der Gemeinde-Pfarrer, ein, „doch der Altar ist ein Stück Geschichte polnischer Katholiken in Berlin.“

Deren Geschichte beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war Kreuzberg ein Bezirk am Rande Berlins, ein Ort, an dem tausende polnische Auswanderer aus Schlesien lebten. Diese Menschen hatten ihre Dörfer und Kleinstädte verlassen, um Arbeit in der Boomtown Berlin zu finden. Namen wie „Schlesisches Tor“, „Oppelner Straße“, „Ratiborstraße“ oder „Görlitzer Bahnhof“ erzählen davon. Das Ende des 19. Jahrhunderts war auch die Zeit des Kulturkampfs in Preußen. Die Bismarck’sche Germanisierungspoltiik fand nicht nur im polnischen Teilungsgebiet statt, sondern auch in der Reichshauptstadt selbst. Von der polnischen Bevölkerung verlangten die Behörden daher, dass sie auf Deutsch lernt und betet. Zwar wurden in einigen katholischen Gemeinden der Stadt polnischsprachige Priester angestellt, nicht aber in St. Marien-Liebfrauen.

Der Gründungpfarrer der Gemeinde, Philipp Jeder, fühlte sich zwischen den Ansprüchen des Staates und seiner Verpflichtung gegenüber den polnischen Gläubigen hin und her gerissen. Deshalb schrieb er 1901 an den Breslauer Fürstbischof Kardinal Georg Kopp: „So weit ich die Gemeinde schätzen kann, müssen von 17.000 Seelen 4.000–5.000 Polen sein.“ Der Pfarrer machte sich zum Fürsprecher eines polnischen Gottesdienstes: „Das Bedürfnis eines polnischsprechenden Kaplans liegt in meiner Gemeinde nach Aussage der übrigen Geistlichen anderer benachbarter Gemeinden sicher vor.“

Eine besonders schwere seelsorgerische Aufgabe für Pater Jeder waren die „Versehgänge“. „Alte Leute, Eltern, die zu ihren hier verheirateten Kindern gezogen sind, entbehren oft, sobald sie krank sind, jedes geistlichen Zuspruches, da sie gerade kein Wort Deutsch, Verbotenes zu nehmen, verstehen, und es kommt nicht selten vor, dass durch Dolmetscher Beichten gehört werden müssen.“ Pater Jeders Brief blieb zunächst ohne Folgen. Fünf Jahre lang warteten die polnischen Christen, dann riefen sie am 4. März 1906 den Boykott gegen St. Marien aus. Sie griffen zu Transparenten und marschierten durch die Wrangelstraße bis zur Kirche.

„Man sagt, dass sie sich an diesem Tag mit dem Pfarrer Jeder getroffen und ihm das Bild der schwarzen Madonna von Częstochowa zusammen mit einer Petition übergeben haben, die von über hundert Polen unterschrieben war“, erzählt Polossek. „Ob es zu diesem Treffen in Wirklichkeit kam und ob wir heute dasselbe Bild der Madonna auf unserem Altar haben, das wissen wir leider nicht.“

Was man heute allerdings weiß: Der Aufstand der Gläubigen, die Christendemo, war nicht erfolgreich. Vielmehr spitzte sich damit der Boykott zu. Die Polizeibehörde Berlins, die damals die Aufsicht über die katholischen Gemeinden hatte, beschloss, drei polnische Kirchenvorsteher und acht Gemeindevertretungsmitglieder aus ihren kirchlichen Ämtern zu entlassen, „da sie sich durch ihr Verhalten anlässlich der stattgehabten Protestversammlung polnischer Katholiken einer groben Pflichtwidrigkeit schuldig gemacht haben“.

Doch die Polen gaben nicht auf. Zwar brachen sie endgültig im April 1907 den Boykott ab, aber schon im August bedrängten sie wieder Pfarrer Jeder. Der Brief enthielt nicht nur die höfliche Frage nach dem polnischen Gottesdienst. Er endete auch mit einer Warnung: „Wir wollen nicht zu Verantwortung gezogen werden für die Folgen, die jetzt kommen werden.“

Dazu gehörte wohl auch eine Flugschrift mit dem Titel „Die himmelschreienden Zustände in unserer Liebfrauengemeinde“, die die Polen an die deutschen Gemeindemitglieder versandten. Die Autoren beschrieben darin ihren dramatischen Kampf um Gerechtigkeit: „Er ist schon so weit fortgeschritten, dass tausende polnischer Katholiken beschlossen haben, diese Kirche zu meiden, in weit entfernte zu gehen oder lieber zu Hause vor einem Heiligenbilde hinzuknien und ihre Gebete zu verrichten.“ Sie beschuldigten schließlich den Pfarrer, dass er sein Amt vergesse und dass er aus Trotz und Despotismus schroff und unerbittlich gegen sie, die Polen, sei. Noch vor der Verteilung der Flugschrift triumphierten die polnischen Katholiken in den Wahlen zur Gemeindevertretung. Unterstützt wurden sie von vielen deutschen Pfarrbeamten, die es ebenso ungerecht fanden, dass es keine Predigten für Polen in ihrer Kirche gab. Pfarrer Philipp Jeder war entsetzt.

Mit einer deutsch-polnischen Koalition gegen ihn hatte er nicht gerechnet. Da die Rebellen ihre deutschen „Glaubensgenossen“ zu einer gemeinsamen Versammlung der Gemeinde angeregt hatten, meldete er dies sofort seinem Vorgesetzten: „Ich befürchte ernstlich, dass die Gemeinde zum weitaus größten Teile für Polen Partei und gegen den Pfarrer Stellung nimmt und ihm Vertrauen und Liebe entzieht, weil er scheinbar ohne Grund den seelsorglichen Bedürfnissen eines Viertels seiner Gemeinde nicht gerecht wird.“

Das leuchtete auch der „Ewigen Eminentz“ ein; der Breslauer Fürstbischof gab nach. So also wurde der Kampf der Kreuzberger Polen im Wrangelkiez gewonnen. Bis zum Sommer 1939 und dem deutschen Überfall auf Polen genossen die aufrührerischen Gläubigen ihren sonntäglichen Gottesdienst, ihre Taufen und Vorbereitungen zur Erstkommunion auf Polnisch.

Der so unscheinbare blau-rosa Altar am Kircheneingang war dann ein Versöhnungsgeschenk der Polen an den vergrätzten Pater Jeder. Natürlich wurde er der Schwarzen Madonna von Częstochowa gewidmet. Ihr trauriges Gesicht ist das bei gläubigen Polen beliebteste und verehrteste Abbild der Maria. In Polen ziehen jedes Jahr im Sommer tausende von polnischen Pilgern nach Częstochowa, um die Schwarze Madonna, die Königin Polens, zu ehren.

Der Kreuzberger Altar mit dem Abbild der Madonna steht noch heute am selben Platz, an dem ihn 1909 die Gläubigen aufstellen ließen. Aber Gottesdienste in polnischer Sprache gibt es nicht mehr. Olaf Polossek, der heutige Pfarrer, spricht kein Wort Polnisch. Wer dennoch die Frohe Botschaft in seiner Heimatsprache hören will, muss in andere Bezirke ausweichen. „Es gibt genügend katholische Kirchen in Berlin, in denen auf Polnisch gepredigt wird“, sagt auch Wiesława Ukleja, die seit acht Jahren im St.-Marien-Pfarrbüro angestellt ist. Anfangs, als sie vor 15 Jahren aus Polen nach Berlin gekommen war, besuchte sie sonntags immer die polnische Kirche in Tempelhof, da sie noch kein Deutsch verstand.

Heute hat sie keine Lust mehr auf die weite Fahrerei. „Wieso sollte ich jede Woche anderthalb Stunden nach Tempelhof fahren?“, fragt sie. „Es gibt nur den einen Gott, wir nennen ihn nur anders.“ Aber gut, dass es hier die Schwarze Madonna gibt. „Jeden Sonntag bekommt sie eine Kerze von mir. Wenn ich für etwas Persönliches oder für die Toten aus meiner Familie bete, dann wende ich mich immer an sie. Unsere Mutter.“