„Ein Musterbeispiel für erfolgreiche Integration“

Heute vor zehn Jahren wurde das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt. Dem 19-jährigen Arun aus Sierra Leone droht daher die Abschiebung

Die dunkle Narbe, die sich vom Schlüsselbein bis zum Nacken zieht, verbirgt Arun (Name geändert) normalerweise unter dem Kragen seines karierten Hemds. Erst als er über seine fast vier Jahre zurückliegende Befragung durch einen „Einzelentscheider“ des Bundesamtes für ausländische Flüchtlinge erzählt, fährt der 19-jährige Gymnasiast vorsichtig mit dem Zeigefinger am Hals entlang über das Narbengewebe.

Arun war 14 Jahre alt, als Rebellen in das Dorf im Norden Sierra Leones eindrangen, in dem er mit seinem Vater und dessen Verwandten lebte. „Ein ganz normales Leben, ich bin zur Koranschule gegangen, mein Vater war Bauer, meine Mutter starb, als ich noch ein Kleinkind war.“ Als die Rebellen das Dorf zerstört hatten, nahmen sie Aruns Vater mit. Damals floh Arun zum ersten Mal: mit einer Tante in den Nachbarstaat Elfenbeinküste. Nach ein paar Monaten kehrte der Schüler nach Sierra Leone zurück: „Ich hatte Heimweh nach meinem Vater.“

Seine Suche blieb erfolglos. Stattdessen wurde Arun nicht nur Augenzeuge von weiteren Bürgerkriegsmassakern, sondern wurde auch selbst mit dem Tod bedroht. „Um Informationen aus mir herauszupressen, drohte einer der Rebellen, meinen Kopf mit einer Machete abzuhacken. Aber dann hat er nur den Schnitt am Hals gemacht“, erklärt Arun die Herkunft der Narbe.

Danach floh er zum zweiten Mal, als blinder Passagier auf einem Frachtschiff. Ohne Papiere, nur mit etwas Gold, um den Matrosen zu bezahlen, der ihn an Bord schmuggelte und ihn während der wochenlangen Fahrt mit dem Lebensnotwendigsten versorgte. Dass er in Deutschland an Land gehen würde, habe er damals nicht gewusst. Erst im Nachhinein erfuhr Arun, dass das Schiff im September 1999 in Hamburg anlegte. Gemeinsam mit einem zweiten Flüchtling schlug er sich nach Berlin durch und stellte einen Antrag auf politisches Asyl.

„In den ersten Monaten habe ich mich furchtbar einsam gefühlt“, erinnert sich Arun an das Leben in der Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Treptow, wo er zunächst untergebracht war. Erst nachdem er bei dem Moabiter Verein Evin e. V. einen Platz in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft bekam, begann Arun Fuß zu fassen. In einem knappen Jahr hatte er den Haupt- und Realschulabschluss nachgeholt. Inzwischen bereitet er sich aufs Abitur vor. „Wenn ich das geschafft habe, will ich Sozialarbeit studieren und meine Freundin heiraten“, fasst er seine Zukunftspläne zusammen.

Sozialarbeiter Stefan Cooper von Evin e. V. findet, dass der 19-Jährige einerseits ein „Musterbeispiel für erfolgreiche Integration“ ist. Andererseits, sagt Cooper, sei seine Geschichte „symptomatisch für die Härte des neuen Asylgesetzes und eines mindestens fragwürdigen Vorgehens der Ausländerbehörde“.

Wäre Arun vor dem 1. Juli 1993 nach Deutschland geflohen, hätte er mühelos einen festen Aufenthaltsstatus in Berlin erhalten. Doch nach den Bestimmungen des jetzigen Asylverfahrensgesetzes wurde ihm vor allem die Tatsache, dass er keine Identitätsdokumente vorlegen konnte, zum Verhängnis. Jahrelang gingen die Behörden davon aus, dass er falsche Angaben über seine Herkunft gemacht hätte; der Asylantrag wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen.

Arun gab nicht auf. Er meldete sich zum Sprachtest in der Botschaft von Guinea, dem Heimatland seiner Mutter, und überzeugte das Personal von seiner Herkunft. Als Arun im November letzten Jahres der Ausländerbehörde schließlich seinen neuen Pass präsentierten konnte, reagierte die sofort. Am nächsten Tag standen zwei Polizisten in Aruns Wohnung, um ihn mitten im Schuljahr zur Abschiebung abzuholen. „Zum Glück konnte ich in meinem Aktenordner den Asylfolgeantrag finden, den mein Anwalt am Tag zuvor gestellt hatte“, erzählt er. Bis über den Antrag entschieden ist, kann er weiter die Schule besuchen. Die Sozialarbeiter von Evin e. V. kämpfen nun mit einem zweiten Antrag für Aruns gesicherten Aufenthalt. HEIKE KLEFFNER