Rot-grünes Gewerkel

Die Ergebnisse von Neuhardenberg weisen auf eine strategische Orientierungslosigkeit der Regierung hin. Alte Gemeinsamkeiten gehen zur Neige, neue sind nicht in Sicht

Die Generation, die das rot-grüne Projekt einst erdacht und befördert hat, befindet sich auf dem Rückzug

Glanz und Elend rot-grünen Regierens liegen gut sechshundert Kilometer auseinander. Während in Düsseldorf eine Regierungskoalition, die genauso wenig Gemeinsamkeiten hat wie Alternativen, bemüht ist, wieder auf den Nenner zu kommen, der in Berlin vorgerechnet wurde, präsentiert sich in Neuhardenberg ein Reformismus, der an die Aufbruchstimmung der frühen Jahre erinnert.

Wo am Rhein die Kontrahenten um ihre jeweilige Identität feilschen, werden im Märkischen die ehernen Grundsätze einer nachhaltigen Haushaltspolitik wie die gesicherten Einwände gegen staatliche Nachfragepolitik zum störenden Geschwätz von gestern. Was vor kurzem noch Sünde gegen die Interessen der kommenden Generation war, ist nun Tugend vorausschauender Standortpolitik. Was Strohfeuer war, soll nun die ganze Wirtschaft anheizen.

Es sind weniger die Beschlüsse, die irritieren, es ist vielmehr die Umstandslosigkeit, mit der sie sich in die bisherige Praxis von SPD und Grünen einpassen. Sosehr sie das tagespolitische Ansehen der Regierung steigen lassen, so deutlich das Signal an die deprimierte Wirtschaftsgemeinde ist, so verweisen die Maßnahmen von Neuhardenberg doch auch auf eine strategische Orientierungslosigkeit der beiden Regierungsparteien. Und so offensiv sie in die nun anstehenden Verhandlungen mit der Union gehen, so heftig kann diese Orientierungslosigkeit durchschlagen, sollte sich im Herbst oder Winter kein erkennbarer Erfolg einstellen. Dann könnte sich zeigen, dass Düsseldorf und Neuhardenberg doch nicht so weit auseinander liegen.

Denn schon länger macht sich ein untergründiges Unbehagen an Arbeit und Ansehen von Rot-Grün breit. Nach fünf Jahren hat sich das Projekt erschöpft. Mit ihm verknüpft sich keine verbindende Leitidee für die Transformationsprozesse, die zu einer postbundesrepublikanischen Gesellschaft hinführen. Nach dem 11. September hat sich das permissive Staatsverständnis der Regierung verändert. Der friedenspolitische Universalismus ist einem interventionistischen Realismus gewichen. Das postmaterialistische Lebensgefühl, von dem das Bündnis früher getragen wurde, ist mittlerweile von der tief greifenden Verunsicherung durchsetzt, mit der die Gesellschaft auf die Möglichkeit eines allgegenwärtigen persönlichen Absturzes reagiert, die vor keiner sozialen Schicht oder Gruppe mehr Halt macht.

Mit der Agenda 2010 wurde der Abschied vom sozialstaatlichen Anrechtesystem bundesrepublikanischer Prägung eingeleitet, doch diese kollektive Ent-Sicherung wird von keiner zukunftsbezogenen Gewissheit begleitet. Am Horizont sozialpolitischer Projektionen erscheint eine Mehrung individuell nutzbarer Optionen, die vom Einzelnen jedoch bislang weniger als Möglichkeit denn als Zumutung begriffen werden. Die erste Phase rot-grünen Regierens war noch vom geliehenen wirtschaftspolitischen Optimismus einer boomenden New Economy getragen. In der Krise offenbart sich nun, dass die Hinwendung zu einer Angebotsorientierung auf dem Arbeitsmarkt durch keine hinreichende Vorstellung davon getragen ist, von welcher Branche der Aufschwung denn ausgehen soll.

Drohender sozialer Wandel weckt den Ruf nach Führerschaft und stellt die Frage nach den Eliten. Obwohl ihr Selbstverständnis dem entgegensteht, konnten die Grünen aufgrund ihres Spitzenpersonals und des normativen Überschusses, den sie noch immer verkörpern, darauf eine Antwort geben, die eine wachsende Zahl von Wählern überzeugt. Der gegenläufige Trend der SPD verweist gleichermaßen auf Führungsschwäche und programmatische Uneindeutigkeit.

Die einst getrennten Kernkompetenzen der beiden Parteien, die auf verschiedene Wählersegmente zielten, verschwimmen zulasten der SPD. Die Grünen haben sich im Laufe der gemeinsamen Regierungszeit zur politischen Mitte hinbewegt, auf den entscheidenden Feldern der sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Transformationen sind die Gemeinsamkeiten mit der Union mittlerweile denen mit der SPD gleich, teilweise sogar größer. Das erhöht die Grundspannung in der Koalition. Das führt zu der Paradoxie, dass eine Debatte über eine große Koalition zugleich auch eine Debatte über Schwarz-Grün hervorruft.

Rot-Grün wird in den nächsten Jahren in einer großen Koalition unter Einbeziehung der Union regieren, und wenig spricht dafür, dass eine formelle große Koalition zu einem besseren Ergebnis kommen würde. Von deren Befürwortern wird zwar gerne auf die Größe der anstehenden Reformen und das Vorbild der Koalition Kiesinger/Brandt abgehoben. Doch wird dabei ein für die Protagonisten wesentlicher Unterschied unterschlagen.

In den Sechzigerjahren verfügten sowohl SPD als auch CDU über genug Ressourcen, bei aller politischen Gemeinsamkeit ihre soziokulturellen Differenzen kenntlich zu machen. Diese Ressourcen sind mittlerweile geschwunden. Die ideologischen Reservoire der Parteien sind erschöpft und lassen sich nicht wieder auffüllen. Angesichts zunehmend instabiler Anhängerschaften werden Distinktionsgewinne von Fall zu Fall erzielt. Selbst eine Blockadepolitik, mit der Oskar Lafontaine noch der SPD 1997 den Weg zur Macht ebnete, ist eine zweischneidige Angelegenheit geworden. Denn die Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderungsprozesse ist inzwischen so weit verbreitet, dass auch ein populistisches Abstellen auf die Interessen der jeweiligen Klientel keine Erfolgsaussichten mehr birgt.

Was eben noch ein Strohfeuer war, soll heute die ganze Wirtschaft anheizen

Für die Regierungsparteien mehr noch als für die Union wird es in den kommenden Monaten darauf ankommen, im eigenen Tun eine Vorstellung vom angestrebten Zustand der Gesellschaft zu vermitteln, die mehr ist als die Notwendigkeit, das Gestern hinter sich zu lassen, oder das Hoffen auf ein besseres Morgen.

Die Kategorien des gesellschaftlichen Fortschritts haben sich erschöpft. Die Gesellschaft wird weder sozialer noch demokratischer, weder gerechter noch friedlicher werden. Das gute Leben wird künftig vornehmlich eines der Individuen sein. Damit stellt die rot-grüne Koalition ihre Philosophie unter ein anderes Vorzeichen, eines, mit dem sich die SPD erkennbar schwer tut. Doch auch bei den Grünen scheiden sich an diesen Aussichten die Geister derjenigen, die in der Tradition einer kritischen Theorie diesseits der Union politisch groß geworden sind, von jenen, denen die Nutzung von Optionen schon immer näher lag als die Orientierung an Visionen.

Beide Regierungsparteien stehen absehbar vor einem Generationswechsel. Die Generation, die das rot-grüne Projekt einst erdacht und befördert hat, befindet sich auf einem – allerdings äußerst langsamen – Rückzug, ohne dass bei den Nachkommenden sowohl in der SPD als auch bei den Grünen bereits hinreichende Klarheit darüber bestehen würde, in welche Richtung sie drängen. Die großkoalitionäre Situation ist auch eine Gelegenheit, sich diese Klarheit zu verschaffen. DIETER RULFF