Stadtgeflüster der Schattenfiguren

Künstler und Wissenschaftler als Seismographen des Städtischen: Das Haus am Waldsee zeigt in Kunst, Statistiken und Fundstücken „Das Atmen der Stadt“ zwischen Hinterhof und Notaufnahme – ausufernd wie die Städte selbst

Liebliches Vogelgezwitscher erfüllt den Raum. Es kommt nicht, wie man anfangs vermutet, aus dem Park, der hinter dem Haus liegt, sondern aus dem Monitor. Die Künstlerin Katherina Meldner hat drei Jahre lang den Gesang zweier Amseln im Hinterhof ihrer Hauses aufgezeichnet. Das aus schriftlichen Notizen und Video bestehende Protokoll gibt Aufschluss über das Verhalten tierischer Lebewesen in der Großstadt, aber auch über unseren Blick darauf. „Amseltagebuch“ und „Morgendämmern“ bilden einen Teil der Ausstellung „Das Atmen der Stadt“, die Andreas Seltzer, der langjährige Leiter der Galerie Bilderdienst, und die Künstlerin Heike Vogler konzipierten.

Erst kürzlich wurde der Moloch „Mexico City“ in den Kunstwerken vorgestellt und machte atemlos. Das „Atmen der Stadt“ ist hingegen poetischer und subtiler – kein Schlag ins Gesicht, sondern ein melancholischer Diskurs aus Elementen des Spielerisch-Versponnenen. Die Stadt – menschengemacht – ist oft als ein Organismus verstanden worden. Durch seine Adern fließt der Verkehr, durch ihre Nervenbahnen der Strom, ihre Parks bilden die grünen Lungen. Die Stadt verändert das Verhalten der Menschen und ihre Wahrnehmung. Straßen und Häuser drängen die Natur zurück, organisieren das Leben neu, beschleunigen und entfremden. Künstler sind dafür ebenso Seismographen wie Wissenschaftler. Das Atmen der Stadt schlägt sich in visuellen Metaphern nieder, die von der Statistik bis zu Schnappschüssen reichen. So zählen zu den Leihgebern der Ausstellung nicht nur Künstler und Galeristen, sondern auch das Stadtklimatologische Institut und die Polizeihistorische Sammlung, die Verkehrsleitzentrale Berlin und das Ullstein Bildarchiv.

Die Visualisierung urbaner Strukturen beruht auf dem Messen und Kartographieren derselben. Das mathematische Pendant dazu bilden die Registrierstreifen der Meteorologen und Ärzte, auf denen Temperatur und Luftdruck, Atmen und Pulsieren in exakter Kurvensprache niedergeschrieben werden. Die verwaltungsmäßige Struktur der Stadt und ihre Verkehrswege bilden für viele Menschen ein Faszinosum und sind für manche Anlass obsessiver Zeichenarbeit. Von Christian Appel sind minutiös ausgeführte wandgroße Stadtzeichnungen zu sehen, von Thorsten Obermann erfundene vielfarbige „Seelenpläne“ und von Matthias Hintzen „Nahverkehrspläne“, die das Pariser Autobusnetz von 1939 ebenso einschließen wie die U-Bahn-Linien von Moskau oder Bombay.

Die Stadt ist Ordnung und Geometrie, wie die schönen, aber verschlossenen Hochhausmodelle von Eva Maria Wilde oder die skulpturalen „Architypes“ von Karsten Konrad zeigen. Die Stadt ist geheimnisvoll wie bei Nanaé Suzuki, die im perspektivischen Zauber aus Dächern und Fassaden „Gesichter“ aquarelliert. Die Stadt hat viele Gesichter, die sich dem Betrachter ins Private entziehen: Matten Vogel fotografiert aus weiter Entfernung erleuchtete Fenster von Wohnhochhäusern. „Privat“ nennt er seine in voyeurhaftem Rotlicht inszenierte Installation. Sie gibt wenig von ihren Schattenfiguren preis und bleibt so geheimnisvoll wie der Lichtkegel hinter dem wallenden „Vorhang“ im Foto von Florian Braun. In den Club-Aufnahmen von Martin Eberle sind die wogenden Menschenmassen verschwunden: es ist Morgen, die leeren Räume dünsten aus und besitzen nun ihren eigenen maroden Zauber. In dem Dokumentarfilmprojekt „WUT“ hat die Stadt dann endlich Gesichter. Es sind die von Menschen, die ausgerastet sind. Zu sehen ist eine Stadt aus der Sicht von Polizisten und Feuerwehrleuten, von Psychologen und Seelsorgern.

Die Anregung zur Ausstellung ging von einem geplanten Film Alfred Hitchcocks aus, der „Das Atmen der Stadt“ heißen sollte. Sicher wäre er spannend geworden und unheimlich. Die jetzige Ausstellung ist spannend, aber nicht unheimlich. Sie ist verwirrend, vielleicht auch ein wenig konstruiert und abstrus. Und damit letzlich durchaus konsequent: So, wie die Städte ausufern, tun es auch die Betrachtungen über sie. MICHAEL NUNGESSER

bis 3. August; Argentinische Allee 30, Di–So 12–20 Uhr