Der Fortschrittliche

Von deutschen Machtstaatsfetischisten wurde Demosthenes gerne verspottet. Gustav Adolf Lehmanns Biografie rehabilitiert endlich den großen Redner von Athen, der stets für die Demokratie eintrat

VON JÜRGEN BUSCHE

Im „Zerbrochenen Krug“ lässt Kleist den Dorfrichter Adam zu seinem Schreiber Licht sagen: „Zur rechten Zeit, Ihr wißts, schwieg auch der große Demosthenes.“

Unvorstellbar, dass heute ein Amtsrichter seine Schreibkraft mit solchem Hinweis ermahnte – erst recht nicht in einer Komödie. Der athenische Staatsmann des 4. Jahrhunderts vor Christus, dem die umfangreichste Biografie gewidmet ist, die je ein deutscher Altertumskundler über einen antiken Politiker schrieb, ist schon in der Generation nach Kleist von einem genialen Gelehrten vom Sockel gestoßen worden. Noch bevor Arnold Schaefers „Demosthenes und seine Zeit“ in drei Bänden 1856–1858 erschien, hatte Johann Gustav Droysen behauptet, die Geschichte kenne „wenig so traurige Gestalten als den großen Redner von Athen; er misskannte seine Zeit, sein Volk, seine Gegner und sich selbst. Mit dem Eigensinn der Ohnmacht und Gewohnheit ließ er selbst mit dem vollkommenen Sieg Macedoniens nach dem Beginn einer neuen, die Welt umgestaltenden Ära seine alten Hoffnungen nicht, die mit ihm sich selbst überlebt hatten.“

So zitiert Jacob Burckhardt den Krypto-Hegelianer und bemerkt dazu, hier mache „niemand eine traurigere Figur als der vir eruditissimus Johann Gustav Droysen selbst“. Ob Demosthenes mit seiner Opposition gegen den Makedonenkönig Philipp Recht gehabt habe, ob er die Lage falsch eingeschätzt habe, sei gleichgültig. Er habe, auch wenn er unterlegen sei, die Demokratie, die Republik gegen das monarchische Prinzip hochgehalten. Das sei entscheidend: „Die Minorität, ob sie siegt oder stirbt, sie macht allzeit die Weltgeschichte. Das eben erfüllt die Menschenbrust mit Hochgefühl, wenn wir sehen, wie eine hochangelegte Persönlichkeit, ein großer Charakter gegen seine Zeit, gegen die unabänderliche Schicksalsordnung der Geschichtsentwicklung dem Titanen gleich sich stemmt und lieber untergeht, als seine Überzeugungen verleugnet.“

Droysen und viele, die ihm folgten, schwärmten für die „Männer des vorwärts“. Sie waren der Ansicht, die Rolle, die Makedonien für Griechenland gespielt habe, werde Preußen für Deutschland spielen. Ziel sei hier wie dort die nationale Einigung unter einer Militärmonarchie, die vom Rande her kommt. Für die griechische Welt war daraus nichts geworden. In Mitteleuropa gelang es Preußen zwar, die nationale Einheit für den größeren Teil der Deutschen herbeizuführen, aber bald schon gab es Preußen nicht mehr, und das von ihm geeinte Deutschland ist nach zwei von Berlin aus geführten Kriegen um ein Drittel kleiner geworden. Wenn es gut geht mit dem übrig gebliebenen Deutschland, dann deshalb, weil Prinzipien, wie sie dem Demosthenes heilig waren, die politischen Regeln bestimmen, und das seit mehr als einem halben Jahrhundert. Es ist in etlichen biografischen Texten älterer Machtstaatsfetischisten putzig zu lesen, wie diese im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik über ihre angeblich nicht vorhandenen Lebenschancen höhnen und den demokratischen Eifer ihrer Politiker lächerlich machen.

Jetzt ist – fast 150 Jahre nach Schaefer – wieder eine Demosthenes-Biografie aus der Feder eines renommierten deutschen Althistorikers erschienen. Gustav Adolf Lehmann, Ordinarius in Göttingen und in den Sechzigerjahren als Assistent in Münster kein Freund der Studentenbewegung, hat sein Buch mit einem Motto versehen, das der Rede entnommen ist, mit der einer der gefährlichsten Gegner des Demosthenes in Athen, der Redner Aischines, ihm am Ende seiner Laufbahn empfindlich schaden wollte. Das ist nicht ironisch gemeint. Aischines hat Recht, wenn er sagt: „Wir haben nämlich keine Lebenszeit nach Menschenmaß erlebt, sondern sind eine Generation geworden, über die sich die Nachwelt nur verwundern kann.“ Aber was bedeutet das? Genau das will Lehmann zeigen.

Demokratie ist Demokratie. Lehmann will nicht Parallelen vorführen, aber sie fließen ihm aus seinem historischen Stoff von selbst in die Zeilen. Die Sprache, in der heute über Aufstieg und Arbeit eines Politikers berichtet wird, enthält genug von dem, was auch für Demosthenes taugt. Lehmann bedient sich da mal gezwungen, mal ungezwungen. Mal setzt er moderne Ausdrücke in Anführungszeichen – „schwarze“ Kassen –, mal setzt er sie in Anführungszeichen und zusätzlich kursiv: „nachbessern“. Mal erscheinen sie wie ganz normal: Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Formel dürfte Schaefer unbekannt gewesen sein, und auch der große Philologe Werner Jaeger, von dem Ende der Dreißigerjahre eine Demosthenes-Monografie in den USA erarbeitet wurde, gebraucht sie nicht.

Tatsächlich gehört sie wohl zum bundesdeutschen Sprachgebrauch seit dem Bemühen westlicher Regierungen, im seinerzeitigen Ost-West-Konflikt nicht nur auf eine Politik der Stärke zu setzen. Wer den Begriff der Außenpolitik mit dem der Sicherheitspolitik verkoppelt, sendet ein Signal aus, das man als Propaganda abtun, aber auch als vertrauensbildende Maßnahme verstehen kann: Meine Sicherheit ist deine Sicherheit; und umgekehrt. Auch wenn die unablässige Wiederholung des Doppelbegriffs phrasenhaft wirkt, ist er unter den Bedingungen der nuklearen Waffensysteme doch von einer gewissen Logik. Aber taugt er auch zur Beschreibung der Diplomatie der griechischen Stadtstaaten zwischen dem herabsinkenden Perserreich und der aggressiv aufstrebenden Makedonen-Monarchie?

Man kann sagen: ja. Lehmann vermag die Verbindung von Außen- und Sicherheitspolitik als die große Begabung des Demosthenes plausibel zu machen: Er erkannte früh die Gefahren, die nicht nur Athen und der ganzen griechischen Staatenwelt von Philipp drohten, seine Prognosen erwiesen sich immer wieder als zutreffend, seine Vorschläge zur Gefahrenabwehr hätten konsequenter befolgt werden müssen, aber das gehört in einen anderen Politikbereich. Demosthenes versuchte, auch Persien in die Abwehrfront gegen Philipp einzubeziehen, was nicht gelang. Immerhin mag man daran erkennen, dass es dem Athener keineswegs – wie Jaeger unterstellte, was Lehmann moniert – um eine nationale Politik der Griechen, gar um eine Form nationaler Einheit gegangen sei. Demosthenes ging es nur um Athen. Da war er nicht bescheiden, aber er wusste, dass zur politischen Klugheit auch Aufmerksamkeit für die Interessen der Partner gehört, vor allem aber die Fähigkeit, geeignete Partner zu erkennen und für sich zu gewinnen.

Die Demokratie in Athen war so schmutzig, wie von Demokratie immer geredet wird. Demosthenes hatte von Jugend an alle ihre Schattenseiten kennen gelernt. Er verlor früh seinen Vater und wurde Anwalt – vielleicht, weil das die einzige Möglichkeit war, sich in dieser Gesellschaft selber zu helfen. Das gelang ihm. Es folgte der Schritt in die Politik. Als es noch Zeit gewesen wäre, die Stadtstaaten zu einer starken Allianz gegen Philipp zusammenzubringen, hatte er wenig Erfolg. Als er damit Erfolg hatte, war es zu spät.

Lehmann zeichnet das Bild eines fortschrittlichen Gemeinwesens in einer Geschichte, die zeigt, dass auch ein fortschrittliches Gemeinwesen von einem atavistischen besiegt und marginalisiert werden kann. Er zeichnet das Porträt eines klugen Politikers und lässt uns die Züge einer durchaus richtigen Politik verstehen, die dennoch scheitert. Sie scheitert, weil die Kräfteverhältnisse gegen sie sind, nicht, weil sie falsch ist, schon gar nicht, weil die Demokratie die unterlegene Staatsform gegenüber der Monarchie wäre. Für diesen Irrtum sind die Deutschen nach dem Gewinn ihrer nationalen Einheit schwer bestraft worden.

Der Ausgang einer Geschichte erweist nicht immer das Richtige oder Falsche. Misslingen kann viele Ursachen haben, auch solche, die das Prinzip der verlorenen Sache nicht widerlegen. Das ist vielleicht schwer zu begreifen. Lehmanns Buch stimmt zuversichtlich, dass es nach fünfzig Jahren Demokratie in Deutschland allmählich begriffen wird.

Gustav Adolf Lehmann: „Demosthenes von Athen – ein Leben für die Freiheit“. Beck Verlag, München, 284 Seiten, 24,90 Euro