Aus dem Schatten heraus

Das Weinviertel war bislang bekannt für preiswerte und schlichte Massenproduktion. Aber es gibt immer mehr Winzer, die umdenken und die Trendwende schaffen. Aus dem spröden Landstrich kommen zunehmend auch anmutige Weine

VON TILL EHRLICH

Sie sind spröde, wortkarg und kauzig. Sie schätzen den Wein als Selbstverständlichkeit innerhalb eines oft öden Alltags. Und sie machen kein großes Gewese darum: Die Weinbauern im Weinviertel wirken kantig und authentisch. Zumindest in den Krimis des Österreichers Alfred Komarek. Sein Protagonist, Inspektor Polt, deckt Morde im Winzermilieu auf und schaut dabei in menschliche Abgründe. Er mag die Mentalität der Leute – und ihren Wein: „Eigentlich war ihm danach gewesen, das ganze Glas in einem Zug auszutrinken und dann ein zweites, und noch eins, bis die Welt endlich weichere Konturen hatte […] Er dachte daran, dass er sich kaum eine schönere Farbe vorstellen konnte als die eines ordentlichen Grünen Veltliners.“ So weit der Krimi, wie sieht die Wirklichkeit aus?

Das Weinviertel im Frühjahr 2004: eine spröde Landschaft, hügelig und baumlos. Sie beginnt am nördlichen Stadtrand von Wien, streckt sich bis hin zur tschechischen Grenze. Das niederösterreichische Weinviertel ist eine spektakulär unspektakuläre Gegend. Die Weindörfer sind zu still und selbstvergessen, um als heile österreichische Weinidylle herhalten zu können. Aber wer die Landschaft auf sich wirken lässt, kann ihre räumliche Weite und Großzügigkeit spüren. Sanft und wellenförmig wirken die Rebhügel. Sie sind allgegenwärtig, in dieser eigenwilligen Region. In Wien wird der Wein aus dem Weinviertel manchmal noch „Brünner Straßler“ genannt, da die hier verlaufende Verbindung nach Brünn (Bruno) zur Zeit der habsburgischen Monarchie einer der wichtigsten Handels- und Verkehrswege war.

Immer wieder sieht man Hohlwege, Kellergassen genannt, in denen sich uralte Presshäuser aneinander reihen. „Dörfer ohne Rauchfang“ heißen sie auch. Dort ist seit Jahrhunderten der Wein zu Hause. Hier werden im Herbst die Trauben gepresst und zu Wein vergoren. Im zeitigen Frühjahr wird der Wein abgefüllt und rasch vermarktet, denn der Weinviertler ist überwiegend ein leichter und einfacher und weißer Alltagswein, der frisch getrunken wird.

Im Weinviertel herrscht unumstritten der Grüne Veltliner, österreichisches Nationalheiligtum. Seinem Wesen nach ist der Grüne Veltliner jahrhundertelang ein höchst schlichter Alltagswein gewesen. Besonders im Weinviertel, wo man ihn traditionell als Durstlöscher und Nahrungsmittel sieht. Das hat dazu geführt, dass er vor allem immer billig sein musste und seinem Charakter nach ein ziemlich bäuerlicher, robuster Typ war. Bekannt auch als „Doppler“, der spottbilligen Abfüllung in dunkelgrüner Zweiliterflasche mit Kronkorken.

Jahrzehntelang war die strukturschwache Region ein Sorgenkind, die im Schatten der Ostblockgrenze vegetierte. Seit dem politischen Umbruch in Osteuropa liegt die Wachstumsrate in Niederösterreich bei knapp acht Prozent. Die Region liegt jetzt wieder in der Mitte Europas. Auch im Weinbau hat in den 90er-Jahren ein Umbruch stattgefunden. Das Potenzial des Weinviertels ist enorm.

Auf fruchtbarem Löss und verwitterten Granitböden, Urgesteinsböden genannt, können einzigartige Gewächse entstehen. Hinzu kommt das Klima: Im nördlichsten Weingebiet Österreichs gibt es eine Spannung aus der Kühle des Kontinentalklimas und der Hitze des pannonischen Klimas. Das Ergebnis sind heiße und trockene Sommer, gefolgt von kühlen und trockenen Herbsten. Ideale Voraussetzungen für unverwechselbare Weißweine und filigrane Rotweine.

Röschitz ist eines dieser stillen Weindörfer, gerade 15 Autominuten von der tschechischen Grenze entfernt. Auch im Weinbau ist Röschitz Grenzland: Es liegt im westlichen Teil des Weinviertels, die Weingärten stoßen an das kühle Waldviertel, wo kein Weinbau mehr möglich ist. Hier hat sich in den letzten Jahren ein kleines Weinwunder ereignet. Eine neue Winzergeneration hat die Betriebe ihrer Eltern übernommen und keltert seit wenigen Jahren aufregende Weine. Etwa der 30-jährige Leopold Maurer: „Viele Winzer treten jetzt aus dem Schatten. Die Motivation ist eine andere als früher.“

Seine Weine sind eigenwillig und dabei fein gezeichnet. Das kühle Klima am Rand des Weinviertel ist besonders für Weißweine geeignet. Die Kühle sorgt für eine langsame Reife der Trauben und bewahrt ihre Frische – Merkmal eines guten Weißweins. So entsteht handwerklicher Wein, der geprägt ist vom verwitterten Urgestein. Besonders im Jahrgang 2003 hat Maurer die Stärke des Weinviertels als Weißweinregion herausgearbeitet. Denn die Hitze des Jahrhundertsommers hat in vielen Weingebieten sehr gehaltvolle Weine entstehen lassen, denen es an Frische mangelt. Maurers Weine wirken dagegen erfrischend und lebendig.

Noch näher an der tschechischen Grenze liegt Seefeld-Kadolz, ein Ort, der menschenleer wirkt. Hier gibt es noch ein „Tonkino“ und eines der ungewöhnlichsten Weingüter Österreichs. Das „Schlossweingut Graf Hardegg“ wurde vor einer Dekade auf Qualitätsweinbau umgestellt. Es gehört einer alten österreichischen Adelsfamilie, die ihrem Weinmacher Peter Malberg freie Hand lässt. Malberg, Anfang 30, trägt ein schwarzes Kapuzenshirt, Lederjacke und Fünftagebart. Man kann ihn sich gut im Hamburger Schanzenviertel oder in Prenzlauer Berg in Berlin vorstellen. Doch Malberg ist besessener Weinmacher. Ein Quereinsteiger, der in seinem früheren Leben Literaturwissenschaftler in Wien war. Heute lotet er die Grenzen des Weinviertels aus, seine Weine sind mutige Experimente. So keltert Peter Mahlberg einen Spitzenwein aus der Weißweinsorte Viognier, die ursprünglich im Rhône-Tal beheimatet ist. Und auch bei Süßweinen geht er neue Wege, aus Sorten wie Blauburger und Merlot lässt er einen beachtlichen Portwein entstehen. „Forticus“ heißt der starke Tropfen, seine Trauben werden wie im Douro-Tal nach bacchantischem Ritual mit Füßen getreten.

Direkt vor Wien, am Stadtrand, endet das Weinviertel. Hier liegt der Weinort Stetten. Und eines der momentan besten Weingüter Österreichs. Das Weingut Pfaffl ist ein Betrieb, der die ganze Region nach oben zieht. Roman und Adelheid Pfaffl haben das Weingut im Wendejahr 1989 auf Spitzenqualität umgestellt und mit Beharrlichkeit, Mut und Gespür viele Widrigkeiten überwunden. Der 52-jährige Patron Roman Pfaffl kann eine Kollektion vorweisen, die berührt. Umweltschonender Weinbau ist für die Pfaffls eine Selbstverständlichkeit. Egal ob rot oder weiß, jeder Wein besitzt innere Schönheit, geschmackliche Transparenz und Kraft. Pfaffls Rotwein „Excellent“ etwa ist ein Grenzgänger. Er widerlegt die These, dass das Weinviertel nur Grüner-Veltliner-Land ist. Selbst in dem allgemein als „schwach“ eingestuften Jahrgang 2001 kann der „Excellent“ auf der Zunge Tiefgründigkeit und Anmut erlebbar machen.

Till Ehrlich, freier Journalist und Autor in Berlin, verwechselt gern West mit Ost. Ansonsten schreibt er am liebsten über Genuss und Wein.