„Da ist wirklich ‘ne Wand“

Ayșe T.

„Die Generation meiner Eltern reduziert Ehre auf ein Hautstück, das Jungfernhäutchen. Damit komme ich einfach nicht klar“ „Meine Cousinen in der Türkei laufen mit Miniröcken rum. Ich hier in Berlin darf nicht mal enge Hosen und T-Shirts anziehen“

Nachdem Regisseur Fatih Akin mit seinem Film „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären der Berlinale gewann, haben viele Deutsche die Geschichte der Sibel gesehen – und waren erschüttert. Ein Einzelfall, glauben viele. Oder: Unterdrückte türkische Frauen tragen Kopftuch. Ayșe T. wurde in Berlin geboren, machte hier Abi und studierte. Sie raucht, trägt ein Nasenpiercing und hat einen deutschen Freund – doch ihren wirklichen Namen kann sie uns nicht nennen. Denn Sibels Filmschicksal kommt ihr nur allzu vertraut vor. Ayșe nennt es ihr türkisch-deutsches Doppelleben. Draußen die selbstbewusste Studentin, zu Hause die rechtlose Ware auf dem Heiratsmarkt

VON CEM SEY
UND ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Du bist in Berlin aufgewachsen, hast bis vor kurzem BWL studiert, trägst kein Kopftuch und bist eine selbstbewusste Frau. Den Film „Gegen die Wand“ konntest du aber kaum aushalten, warum?Ayșe: Ich hab den ganzen Film über nur geweint. Ich dachte, das auf der Leinwand ist mein Leben. Wie Sibel im Film habe auch ich mich nur noch aufgeschlitzt. Als sie den Fremden fragt: Bist du Türke? Willst du mich heiraten?, haben alle im Kino gelacht. Ich fing an zu heulen. … Du gehst einen Weg, da ist wirklich ’ne Wand, und du kannst nicht vorbei

Du wirkst nicht unglücklich.

Es ist so ein Doppelleben. Jeder, der mich erlebt, denkt doch; Boah, ist die selbstbewusst und gut drauf. Ich wirke doch gar nicht wie eine Türkin, die unterdrückt wird. Aber zu Hause laufen Dinge ab, ich glaube, die will niemand wissen.

Doch, wir, was läuft denn da ab?

Meine Eltern respektieren mich kein Stück und ich werde geprügelt und wie Scheiße behandelt. Ich lebe in ständiger Angst, dass mein Vater irgendetwas über mein Doppelleben erfährt. Wenn er etwas erführe, ich glaube, das würde ihn sehr traurig machen. Das könnte ich nicht ertragen. Aber immer dieses schlechte Gewissen, immer dieser Schein, ich kann das nicht mehr.

Dein Vater kommt aus einem anatolischen Dorf, ist sehr religiös. Er möchte, dass seine sieben Töchter studieren und erfolgreich sind. Er hat nie verlangt, dass ihr ein Kopftuch tragt. Gilt er damit nicht als offen und modern?

Ja, er hat uns ohne Zwang in seiner Religion erzogen. Wenn wir Besuch haben, erzählt er stolz, dass wir studieren und alles dürfen. Man könnte denken, dass ich jeden Abend in die Disko darf. In Wirklichkeit war ich mit 24 zum ersten Mal – heimlich – in einer Disko. Wichtig ist immer, dass die Familie T. ihre Ehre hat. Wenn uns jemand besucht, haben wir alle unsere glücklichen Masken auf. Und wenn der Besuch wieder weg ist, dann geht alles weiter so.

Was ist der Grund dafür?

Mein Vater hat Angst davor, dass wir vielleicht wirklich unseren Weg gehen. Aus seiner Verantwortung entlässt er uns erst, wenn er uns verheiratet hat. Er sagte mir: Du verlässt uns nur im Brautkleid! So lange muss ich zu Hause leben.

Warum kontrolliert er dich so?

Wegen seiner Ehre. Wir sieben Töchter sind seine Ehre. Und diese Last trägt er allein, da kein Sohn da ist. Dementsprechend erzieht er uns eben, weil er das richtig findet.

Was bedeutet denn „Ehre“?

Jungs und Männer definieren das ganz anders als ich. Schon kleine Jungs sagen: Hey, das ist meine Schwester, ey, du darfst sie nicht angucken.

Und was ist Ehre für dich?

Ich wurde sehr krass erzogen. Die Generation meiner Eltern reduziert Ehre auf ein Hautstück, das Jungfernhäutchen. Damit komme ich einfach nicht klar. … Puh, jetzt muss ich gleich losheulen. Mir wird aber nicht die Gelegenheit gegeben, selbstständig zu werden. Mein Vater entscheidet alles für mich. Mach dies, mach das.

Auch nachdem du 18 wurdest?

Damals habe ich heimlich jemanden kennen gelernt. Es war ein Kurde, ein paar Jahre älter als ich. Ich wurde gleich von ihm vergewaltigt. Er meinte nur: Jetzt gehörst du nur mir, und du wirst zu niemand anders gehen können. Er verstand das mit der Ehre genauso wie meine Eltern. Es war schrecklich.

Du warst noch zwei Jahre mit diesem Mann zusammen. Warum?

Ich dachte, das ist normal so, so sind Beziehungen eben, so gewalttätig. Ich habe mich damals überhaupt nicht gewehrt. Wenn ich heute darüber nachdenke, würde ich jeder Frau einen Vogel zeigen, die so was mitmacht.

Konntest du dir denn bei niemandem Rat holen?

Bei wem? Und wie? Ich konnte mit niemandem darüber reden. Mein Vater hätte den Typen umgebracht, und ich glaube, mich auch, weil ich ja ein Schandfleck geworden bin. Schließlich schaffte ich es wenigstens, mich von diesem Mann zu trennen, was schwer genug war, weil er gewalttätig war.

Konntest du auch hinterher mit niemandem reden?

Doch. Bald darauf lernte ich einen anderen Mann kennen, einen türkischen Kommilitonen im BWL-Studium. Er war der erste Mensch, dem ich das erzählte. Er meinte nur: Na, wer weiß, vielleicht hast du dich freiwillig unter ihn gelegt und hattest sogar Spaß dabei.

Warum wollte er dir nicht glauben?

Er ist sehr religiös. Erst wollte er, dass wir auf keinen Fall bis zur Hochzeit miteinander schlafen. Natürlich kamen wir uns aber vorher näher, und nach anderthalb Jahren haben wir zum ersten Mal miteinander geschlafen. Ich hatte große Angst. Nach dem Sex sagte er plötzlich ekelhafte Sachen zu mir, anstatt mich in die Arme zu nehmen. Er meinte, das ist Sünde, Gott werde uns bestrafen und forderte: Geh und lass dich operieren.

Er verlangte, dass du dir das Jungfernhäutchen wieder zunähen lässt?

Ja, er wollte Blut sehen, wenn wir in der Hochzeitsnacht das erste Mal miteinander schlafen. Ich hab das dann machen lassen. Natürlich haben wir dann doch vor der Hochzeit wieder miteinander geschlafen – und ich hab nicht geblutet! Er verdächtigte mich, ich hätte inzwischen schon mit jemand anders geschlafen. Das war Quatsch. Er hat alles nur von diesem Blut abhängig gemacht. … Mein Vater ist genauso.

Was meinst du damit?

Alles dreht sich nur um die Äußerlichkeiten. Das macht mich verrückt.

Warum wolltest du denn heiraten?

Es war nicht leicht mit diesem Freund. Andauernd musste ich mir was anhören. Wenn ich engere Klamotten anhatte, sagte er: Wenn Männer dich sehen, denken sie gleich daran, wie sie deine Titten ficken. Er hat mich daran gehindert, Frau zu sein. Aber ich musste ihn ja heiraten, weil mein Vater uns eines Tages Händchen haltend gesehen hatte. Ich wollte nicht als Nutte dastehen. Hauptsache, meine Eltern bekommen das, was sie sehen wollen.

Wollte dein Vater, nachdem er euch erwischt hatte, dass du diesen Mann heiratest?

Nein, er meinte, der ist nichts für mich. Mein Vater wollte mich erst nach dem Studium verheiraten. Ich wollte ihm aber beweisen, dass er Unrecht hatte, dass ich keine Nutte bin.

Und wie stand dein Freund dazu?

Er hat ständig gesagt: Jeder merkt, dass du keine Jungfrau mehr bist.

Woran erkennt man eine Jungfrau?

Ich habe gelernt, dass Jungfrauen nicht so laut lachen wie Ayșe. Offenbar benehme ich mich so wie eine Frau, die an anderen Männern interessiert ist. Er fragte sich ständig, ob jemand merkt, dass Ayșe keine Jungfrau mehr ist. Für ihn war das halt Ehrensache.

Konntest du nicht wenigstens mit deiner Mutter über alles reden?

Wenn wir zu Hause Fernsehen schauen und im Film eine Frau vergewaltigt wird und sich anschließend umbringt, sagt meine Mutter regelmäßig: Gut so, sie verdient es nicht, zu leben! Sie weiß ja nicht, was mir widerfahren ist. Ich habe natürlich auch versucht, mich umzubringen, ich dachte ja, ich bin nichts mehr wert.

Wenn deine Mutter wüsste, was dir passiert ist, würde sie dir beistehen?

Meine Mutter hat meinen Vater mit 15 geheiratet. Er hat sie praktisch erzogen, und sie ist wie eine Tochter zu ihm. Meine Mutter muss auf der Seite meines Vaters stehen, weil sie sonst alles abbekommt. Sie ist sonst die Schuldige, denn mein Vater würde sagen: Wegen dir ist deine Tochter so geworden. Und sie hat ja sieben Töchter. Deswegen hält sie sich raus aus allem.

Heute kannst du über all das schon ziemlich gut reden. Wie kommt das?

Vor vier Jahren wurde ich magersüchtig. Erst einmal wollte ich das nicht wahrhaben, aber eine meiner Schwestern, die, die Psychologie studiert, hat es gecheckt. Meine Eltern machten sich zwar auch Sorgen, haben mich aber nur zum Essen gezwungen, sodass ich schließlich Bulimie bekam.

Fressen, kotzen, fressen. Du hast dich in ein Doppelleben geflüchtet?

Wieder dieser Schein halt. Meine Schwester hat es durchschaut und schließlich dafür gesorgt, dass ich in eine Klinik kam. An mir war ja nichts mehr dran.

Hat deine Familie dann endlich geahnt, dass du Probleme hast?

Nein, sie wollen das nicht wahrhaben. Sie haben mich auch nicht in der Klinik besucht, obwohl ich vier Monate dort war. Mein Vater denkt, Essstörungen sind kein Grund, um in eine Klinik zu gehen. Er glaubt, es reicht, wenn ich Urlaub zu Hause in der Türkei mache.

Was war die Klinik für dich?

Ein neuer Lebensabschnitt. Ich fand die Stärke, mich von diesem Freund zu trennen. Zu sagen, ich will ihn nicht heiraten. Er hatte Angst, mit ein Grund dafür zu sein, dass ich in der Klinik war. Er sagte immer wieder: Ich will gar nicht so zu dir sein. Eigentlich hat er unter sich selbst gelitten, darunter, dass er sich diesem Türkischsein, so wie andere halt sind, unterwirft.

Heute bist du wieder gesund, wohnst aber immer noch bei deinen Eltern. Wie ist euer Verhältnis heute?

Ich werde immer noch geschlagen, denn mein Vater meint, ich wäre in der Klinik zu deutsch geworden. Ich nenne es „ein bisschen ichbezogener“. Mein Vater bestraft mich gerade wieder, indem er schon seit drei Monaten nicht mehr mit mir redet, weil ich ein Nasenpiercing trage. Weil ich aus der Reihe tanze. Ich habe richtig Angst vor ihm, aber diesmal habe ich nicht nachgegeben. Das ist wirklich krass, und ich werde wieder etwas krank, aber ich reiße mich eben zusammen.

Was sagen denn deine türkischen Freundinnen dazu?

Die sagen: Och ja, mir geht’s auch nicht anders.

Erleben die ähnliche Sachen?

Ähnliche Sachen ja, aber geschlagen werden sie nicht mehr. Wenn ich das deutschen Freundinnen erzähle, sagen die meistens: Man, zieh doch aus, geh doch einfach! Warum tust du dir das an?

Und was antwortest du?

Ich kann meine Eltern nicht verlassen, es wäre dann für immer. Sie würden mich verstoßen, und ich könnte nie wieder Kontakt zu ihnen haben. Das ist es mir nicht wert. Ich werde zwar wie Scheiße behandelt, okay, aber ich glaube, ich würde zu viel aufgeben.

Die Flucht von Sibel im Film endet in der Türkei. Könntest du dir das auch vorstellen?

Ich telefoniere regelmäßig mit meiner Familie dort, aber ich könnte da nicht leben, ich bin ja für alle die Deutsche. Meine Cousinen in der Türkei allerdings laufen mit Miniröcken rum. Ich hier in Berlin darf nicht mal enge Hosen anziehen. Die dürfen auch ihre Meinung sagen, ohne dass sie zusammengeschlagen werden. Meine Cousine fragt mich immer: Wo lebt ihr denn, in welchem Mittelalter? Krass, wirklich. Kommen die aus Deutschland oder ich?