Der Nachlass wird umverteilt

Was bleibt nach einem langen Leben, passt nicht in einen Schuhkarton. Die Emmaus-Gemeinschaft in Köln hilft Hinterbliebenen bei der Wohnungsauflösung. Das verdiente Geld dient sozialen Zwecken

Von Claudia Lehnen

Das Teelicht im elfenbeinfarbenen Stövchen ist noch nicht ganz heruntergebrannt, in der Zuckerdose warten Kristallstücke auf den Nachmittagsgast. Eigentlich sieht alles ganz normal aus – wie das Wohnzimmer einer alten Dame eben auszusehen hat. Man schnuppert unwillkürlich nach dem Kaffeeduft aus der Küche. Aber da riecht es nicht frisch aufgebrüht. Und neben dem Kaffeegeschirr auf dem Eichentisch türmt sich Kleinkram, der auf einer Kuchentafel eigentlich nichts zu suchen hat. Ein ganzer Stoß Glühfixbeutelchen liegt da, unter einem Deckchen blitzen Heftstreifen hervor. Neben einem Wanderabzeichen aus der Eifel haben sich ein Gürtel, Stifte und Nähgarn breit gemacht.

Die elf Ankömmlinge, die gerade die Wohnung betreten, stören sich nicht am lieblosen Durcheinander auf dem Wohnzimmertisch. Sie vermissen ihn nicht, den Kaffeeduft. Sie sind hier mit 25 Kartons, 30 Säcken und einem großen Werkzeugkoffer. Sie sollen verpacken und verladen, was mal der Rahmen war für das lange Leben einer Frau, die vor kurzem verstorben ist.

Franz ist solche Besuche gewohnt. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet er schon in der Emmaus-Gemeinschaft in Köln-Niehl. Seit zehn Jahren hilft der ehemalige Obdachlose bei Wohnungsauflösungen. Er fährt zu den Haushalten, teilt die Reste eines Lebens ein in Verwertbares und Sperrmüll, macht ein Protokoll und rückt einige Tage später mit einem Lastwagen und einer Truppe Gemeinschaftsmitglieder an, um Schränke auseinander zu schrauben, blaue Säcke mit Kissen und Kleidern zu füllen und altes Porzellan bruchsicher in Zeitungspapier einzuschlagen.

Dabei ist er nicht nur Möbelpacker. „Ich höre mir all die Geschichten an“, wird er später sagen, wenn er mit krummem Rücken auf dem Fahrersitz zurück nach Niehl wippt. Geschichten von Menschen, die gerade einen nahen Verwandten verloren haben und nun loswerden müssen, was von dessen Leben übrig blieb. Geschichten von Alten, die in ein Seniorenheim verpflanzt werden und ihren Hausrat nicht mitnehmen können. Geschichten von Aussteigern, die ein neues Leben beginnen wollen ohne den Ballast früherer Tage. Meist sind es traurige Geschichten. Nach fünf Minuten habe er all diese Geschichten wieder vergessen, sagt Franz. „Man kann nicht alles behalten“, krächzt er und steckt sich eine Zigarette zwischen die blassrosa Lippen.

Mindestens einmal wöchentlich rücken die Mitarbeiter der Emmaus-Gemeinschaft mit Laster und Kleinbus aus, um ganze Wohnungen leer zu räumen. Ist viel Sperrmüll unter dem Hausrat, verlangen sie Gebühren. Heute ist der Abtransport kostenlos, schließlich sind da Schränke, Tische, Stühle, Kommoden und teure Porzellanteile, die gewinnbringend im Verbund gemeinnütziger Kölner Möbellager verkauft werden können.

Magda und Saskia von der Emmaus-Gemeinschaft haben schon damit begonnen, das Porzellan einzupacken. Die Zuckerdose ist vom Tisch verschwunden, der Zivildienstleistende Sebastian rollt gerade einen verstaubten Perserteppich zusammen. In der drangvollen Enge des Zimmerchens steht eine ältere Frau mit Augen, die ein wenig zu groß aussehen. Sie sieht zu, wie ein großer Pappkarton Tasse für Tasse, Stickbild für Stickbild gierig verschlingt. Ihre linke Hand knetet die Rechte, so dass rote Flecken entstehen, ein Klirren hinter ihr lässt ihre Augen noch ein wenig anwachsen. Sie fährt herum und sieht, wie einer der Helfer abgestoßenes Porzellan in den Müllsack plumpsen lässt.

„Was ihr nicht brauchen könnt, lasst ihr eben hier“, sagt sie. Sie will, dass es gleichgültig klingt, nebenbei gesagt, als wäre es nicht wichtig, als handelte es sich hier nicht um die Kaffeekanne ihrer Mutter, die Kanne, von der sich die Verstorbene aus Sentimentalität nie trennen konnte, auch nicht zu einem Zeitpunkt, als der Deckel schon verloren, der Rand schon abgestoßen war. Es klingt aber eher verzweifelt.

Die elf Männer und Frauen, die gekommen sind, um die Rückstände eines Lebens in Kartons zu packen, sind diskret. Situationen wie diese gehören für sie zum Arbeitsalltag, ebenso die Geschichten, die hier aller Orten versteckt sind zwischen den alten Geburtstagskarten „für die liebe Oma“, der umfassenden Sammlung an winzigen „viss“-Probefläschchen und den farbenfrohen Kissen auf der dunkelgrünen Couch. Jeder hört zu, niemand fragt nach. Sie passen auf, dass sie nichts kaputt machen, was später im Möbellager oder in der Flohmarkthalle verkauft werden kann. Schließlich gründet sich ihre Existenz fast ausschließlich auf den Verkaufserlös des Secondhand-Lagers an der Geestemünder Straße.

Die Emmaus-Gemeinschaft nutzt sich aber nicht nur selbst. Ein großer Teil des erwirtschafteten Geldes wird in gemeinnützige Aktionen gesteckt. So gehen Kleider- und Hausratspenden nach Osteuropa und Südamerika, einmal pro Woche wird auf dem Kölner Appellhofplatz Suppe, Kaffee, Brot und Obst an Obdachlose verteilt.

Es ist schwer, den Hausstand der eigenen Mutter aufzulösen. Sich zu trennen von Dingen, die der Verstorbenen einmal teuer waren. Trotzdem ist die ältere Frau mit den scheuen Augen froh, dass sich die Emmaus-Gemeinschaft um die Hinterlassenschaften ihrer Mutter kümmert. Zunächst hatte sie in der Zeitung inseriert. Als aber dann Wildfremde kamen, Schranktüren aufrissen und in Schubladen wühlten, schickte sie alle wieder weg. „Das konnte ich nicht aushalten. Ich bin richtig krank geworden darüber.“ Dass Zuckerdose und Kleiderschrank der Mutter nun einem guten Zweck dienen, stimmt die Tochter fast ein wenig froh. Sie lächelt tapfer, um ihren Mund ziehen sich feine, weiche Falten, und die linke Hand ruht für einen Moment entspannt in der Rechten.