Die Sache mit Winfried

Jede Nacht geht es im Schlafzimmer hoch her – Herr Hefele ist am Ende seiner Kräfte

Winfried hat eine Bestimmung. Eine Mission! Winfried wurde geschaffen, um mich zu quälen

Gott sei Dank ist der Sommer bald vorüber. Ich bin nämlich schon wieder am Ende meiner Kräfte. Jeden Morgen krieche ich ins Büro, und wenn ich ganz viel Glück habe, treffe ich auf der Stiege meinen augenzwinkernden Nachbar: „Bei Ihnen ging es ja wieder hoch her, letzte Nacht“, und: „Junggeselle müsste man sein!“ Ich nicke halb ohnmächtig, denn die Geschichte mit Winfried würde mir ohnehin keiner glauben.

Leute, die die Folter eines südamerikanischen Terrorstaats überstanden haben, wissen wie das ist: Blutverlust, kein Schlaf, immer an der Grenze zum Nervenzusammenbruch. Aller Würde und aller Energien beraubt. Übrig bleibt ein hohläugiges Skelett, das wegen jeder Kleinigkeit zusammenzuckt und ohne erkennbaren Anlass zu weinen beginnt. So geht es mir. So geht es mir jeden Sommer. Meine Folterkammer ist das Schlafzimmer, der ich letztlich nicht entkomme. Obwohl ich mein Stammlokal stets als Letzter verlasse, obwohl ich wahllos Damenbekanntschaften schließe, um irgendwo anders übernachten zu können. Irgendwann muss ich wieder daheim schlafen.

Und dann kommt er. Obwohl ich bete, dass er mich verschonen möge. Diesmal. In diesem Jahr. Umsonst. Irgendwann kommt er; mein Folterknecht und beginnt mich zu triezen. Irgendwann höre ich es wieder. Dieses schrappige „Schrrrabrrrt, schrrrabrrrt …“ Und dann weiß ich: Winfried ist zurück. Winfried ist winzig. Das reimt sich ein bisschen, ist aber überhaupt nicht lustig. Denn Winfried ist brutal und ein Blutsauger, wie er im Buche steht.

Nein, Winfried ist kein Vampir, aber er steht einem Vampir in nichts nach. Dabei ist Winfried eine absolut lächerliche und blödsinnige Erscheinung. Dieses winzige Gehirn! Diese dünnen Beinchen! Dieser riesige Rüssel! Wenn Winfried geht, dann stakst er wie auf Stelzen über die Tapete, wenn Winfried fliegt, ist es ein einziges sinnloses Getorkle. Winfried ist weder schön noch intelligent, noch zu irgendetwas nutze. Winfried hat keinen Beruf und – hoffentlich – keine Familie. Aber er hat eine Bestimmung. Eine Mission! Er wurde geschaffen, um mich zu quälen. Mich mit roten Pusteln zu übersäen. Winfried ist – die Intelligenteren unter Ihnen wissen es längst – eine Stechmücke. Eine uralte Stechmücke. Wie könnte er sonst jedes Jahr wiederkommen? Stechmücken werden nicht so alt. Winfried schon.

Warum ich weiß, dass es jedes Jahr wieder Winfried ist, und warum Winfried Winfried heißt? Dazu müsste ich länger ausholen, und dazu fehlt uns die Zeit und der Platz. Nur so viel: Der Schwager meines Bruders ist ein Ausbund an impertinenter Aufdringlichkeit. Ein dünnes, blasses Männlein, das sich mit tonlosem Stimmchen in jede Unterhaltung einmischt und diese penetrant und leise summend unterminiert und schließlich zum Erliegen bringt. Winfried – der Schwager Winfried – bringt auch ansonsten sanfte und zurückhaltende Menschen dazu, unter dem Tisch die Fäuste zu ballen. Und: Wenn es riesige Klatschen gäbe, würde Schwager Winfried schon längst platt an irgendeiner Wand hängen. So wie mein Winfried – die Mücke Winfried – es leider nicht tut.

Ich jage die Mücke W. schon seit Jahren, und ich war mehrmals überzeugt, sie bereits erlegt zu haben – allein es fehlte stets der Beweis. Die Leiche. Und: Winfried kam immer zurück. Alles habe ich versucht. Ich rieb mich mit eklig riechenden Tinkturen ein. Ich nebelte das Schlafzimmer tagelang mit absolut tödlichem Gift ein. Ich umhüllte sozusagen das Haus mit Gazetüchern. Ich schlug mit dem Handtuch nach ihm. Kaum nahm ich das Tuch von der Wand, erstarb mein Triumphgeheul: Torkelnd segelte Winfried davon. Dick und voll mit meinem Blute!

Darum wird mein Schlaf schon Ende April leicht und oberflächlich. Weil ich weiß: Bald kommt Winfrieds Zeit. Dann lausche ich in die Nacht und bete, dass ich diesmal vielleicht verschont werde. Und immer hoffe ich vergebens. Auch dieses Jahr. Es war schon Mitte Juni, und ich nährte, aufmerksam in meinem Giftnebel hockend, eine zarte Hoffnung. Dass Winfried das Zeitliche gesegnet hätte und an irgendeiner Scheibe kleben würde, wie es sich für eine Mücke gehört. Es gab schon Tage, an denen ich regelrecht durchschlief, und ich begann mich frech am Sommer zu freuen. Da! Es war an einem Dienstag. Da war es wieder: „Schrrabrrttt, schrrabrrttt!“ Winfried! Oder – was fast noch schlimmer wäre – seine Nachkommen! Die ihm auf dem Totenbett versprechen mussten, mich zuverlässig weiterhin zu quälen! Soll das denn nie enden? Soll ich nach Alaska auswandern? Soll ich weiterhin jeden Sommer in Zitrone baden, nächtelang um mich schlagen und Gift sprühen wie eine Chemiefabrik? Und am nächsten Morgen das Geplapper meines ahnungslosen Nachbarn anhören?

Ich muss schon wieder weinen. ALBERT HEFELE