Der Riesenhunger nach Stahl

Heute schon fließt mehr als die Hälfte des produzierten Stahls in die chinesische Bauindustrie

AUS PEKING GEORG BLUME

Im Jahr 2030, so eine Schätzung der Weltenergiebehörde in Paris, wird China genauso viel Öl importieren wie die USA heute. Das ist nur eine von den vielen Prophezeiungen, die Chinas steigenden Einfluss auf die Weltwirtschaft in die Zukunft hochrechnen. Wobei die meisten Kurven daraufhin deuten, dass China bis zur Jahrhunderthälfte die USA als größte Wirtschaftsmacht ablösen wird. Das allerdings bleibt unvorstellbar. Jeder ahnt zumindest, dass Chinas Entwicklung nicht frei von politischen Rückschlägen sein wird. Die Folge: Viele nehmen die Prognosen letztendlich nicht ernst.

Chinas Aufstieg erscheint als Lottospiel einäugiger Ökonomen. Welcher deutsche Autofahrer würde schon annehmen, dass der von ihm zu entrichtende Benzinpreis heute bereits mehr mit den Entwicklungen in China als mit dem Kriegsausgang im Irak zu tun hat? Vermutlich aber ist das der Fall. Tatsächlich ist die Zeit vorbei, in der die meisten China-Rechnungen auf beliebigen Prognosen beruhten. In den letzten Jahren hat der ökonomische Einfluss der Volksrepublik so zugenommen, dass sich in wichtigen Branchen schon heute ein Bild zeichnen lässt, wie es in 50 Jahren möglicherweise die gesamte Weltwirtschaft prägt. Damit ist nicht gesagt, dass Rückschläge unwahrscheinlicher geworden sind. Sie gehören weiter in den Bereich glaubwürdiger Zukunftsforschung. Doch hat die Phase chinesischer Dominanz auf den Weltmärkten unwiderruflich begonnen – und zwar nicht nur beim Fahrradbau, wo China seit Jahren über die Hälfte des Weltbedarfs produziert.

Aufsehen erregend ist vor allem Chinas rasanter Aufstieg zum größten Stahlproduzenten und -konsumenten der Welt. Stahl ist nicht Spielzeug, wie es jeder heutzutage aus China kennt. Stahl ist der nach Erdöl wichtigste Grundstoff der Industrialisierung. Chinas neue Vorherrschaft in der Stahlproduktion aber erlaubt dem Westen zum ersten Mal eine auf Fakten und nicht mehr nur auf Prognosen gründende Wahrnehmung der kapitalistischen Führungskraft der Volksrepublik.

Die Rede ist von einem bisher nie da gewesenen Ausmaß der Industrialisierung. Von rauchenden Schornsteinen in einer Zahl, wie sie die Länder des Westens nie gesehen haben. Von einer Urbanisierung, wie sie so schnell und für so viele Menschen noch nie in der Geschichte stattgefunden hat.

Chinas Stahlproduktion schlug im letzten Jahr mit 240 Millionen Tonnen alle Rekorde. Nun ließen sich ähnlich hohe Zahlen auch für den chinesischen Kohle-, Zement-, Aluminium-, Kupfer- oder Zinnverbrauch aufführen. Sogar beim Öl zeichnet China heute für den weltweit höchsten Konsumanstieg verantwortlich. Doch symbolisch ist die Stahlbranche das beste Beispiel.

Deng Yusong, Rohstoffexperte beim Pekinger „Forschungsinstitut für Markwirtschaft“, das direkt dem chinesischen Kabinett untersteht, erklärt den Stahlboom mit einer „neuen Wachstumsphase“. Nachdem China in den ersten zwanzig Jahren seiner Reformpolitik den exportorientierten Leichtindustrien wie Textil und Elektronik Vorrang eingeräumt habe, habe im Jahr 2002 „die Phase der Schwerindustrialisierung“ begonnen. Schneller als erwartet (siehe Kasten).

Wenn westliche Analysten dies hören, sagen sie, das sei „nicht nachhaltiges Wachstum“. Doch Deng widerspricht: 2002 habe der Pro-Kopf-Stahlverbrauch in China bei nur 1,64 Tonnen im Jahr gelegen. Im Westen hätte man während der Industrialisierungsphase 20 Tonnen pro Kopf verbraucht. Folglich sei der Stahlkonsum in China – wenngleich er heute an der Weltspitze liege – immer noch sehr gering.

Auch für Yuan Gangming, Senior Fellow am Wirtschaftsinstitut der Chinesischen Sozialakademie, hat die Entwicklung gerade erst begonnen: „Wir hatten jahrelang eine falsche makroökonomische Politik“, kritisiert Yuan. So hätte die Regierung ab dem Boomjahr 1993 bis ins Jahr 2002 die Nachfrage innerhalb Chinas aufgrund von Inflationsängsten künstlich unterdrückt. Erst seit zwei Jahren seien nun private Wohnungs- und Autokäufe möglich.

Voraussetzung dafür war die Einführung privater Kredite bei den Staatsbanken, die vorher nur Geld an Staatsunternehmen verliehen. Das habe dann auch den Stahlboom ausgelöst. Tatsächlich fließt heute mehr als die Hälfte des produzierten Stahls allein in die chinesische Bauindustrie. Zweitgrößter Abnehmer ist die Werkzeugmaschinenindustrie gefolgt von der Automobilindustrie.

Damit sind also die Baukräne, die Chinas Städte heute mit der Regelmäßigkeit von Telegrafenmasten durchziehen, augenfälliger Ausdruck der „Schwerindustrialisierung“. Gebaut werden vor allem Apartmenthäuser. Das ist die Folge einer Planwirtschaft, in der bis vor kurzem noch jedem seine Wohnung von der Staatsfirma überlassen wurde. „Die Menschen merken plötzlich, dass sie mehr privaten Wohnraum brauchen“, beobachtet Wirtschaftsexperte Yuan. Aber warum spricht man dann vom „nicht nachhaltigen Wachstum“? Dürfen sich die Chinesen keine eigenen Wohnungen bauen?

Eben doch, und das kennzeichnet die schwer fassbare Normalität des Booms. Denn niemand stellt bislang große Ansprüche. Private Luxusvillen gibt es in China bisher nur am Shanghaier Flughafen, in ein paar Küstenorten und vereinzelt in Peking. Allenfalls über die nötige Größe einer Wohnung wird landauf, landab gestritten. Sicher aber ist: Der Bedarf wird weiter steigen.

200 Millionen Landchinesen wollen in den nächsten zehn Jahren in die Städte umsiedeln. Sie kommen meist über tausende von Kilometern. Es ist die größte Völkerwanderung aller Zeiten. Und für sie müssen dringend Wohnungen her. Und damit noch mehr Stahl, Zement und Kohle.

Immerhin: An den nötigen Rohstoffen wird es nicht mangeln. Eisenerz und Kohle für die Stahlproduktion gibt es genug. Gerade weilt Brasiliens Präsident Lula in Peking, um den Chinesen noch mehr davon zu verkaufen. Längst ist China der größte Eisenerzimporteur der Welt. Rohstofflieferanten wie Brasilien freuen sich. Denn die Eisenerzpreise sind weltweit stark angezogen. Überhaupt hat der Anstieg der chinesischen Nachfrage die jahrzehntelange Ära billiger Rohstoffpreise beendet.

Alles ist heute teurer – nicht nur das Öl, auch Kupfer, Aluminium, Zinn, Zink und Kohle. Für alle Rohstoffe ist China zum größten Abnehmer geworden. Schön stöhnt die Autozulieferindustrie in Deutschland über die hohen Stahlpreise, die sie nicht an die Kunden weitergeben könne. Doch zu beklagen gibt es im Westen nichts: Es geht nur um die Globalisierung, und dass sich die Chinesen ab sofort die Rohstoffe für den Stahl mit den reichen Ländern teilen.

Schwieriger wird es beim Öl, das nur begrenzt vorhanden ist. Wo die Vorräte politisch heiß umworben werden. Wo Chinas Nachfrage nicht eingeplant war, weil das Land bis vor zehn Jahren noch zu den Selbstversorgern mit Erdöl zählte. Doch nun bekommt auch die Volksrepublik nicht genug von dem schwarzen Gold: Über die Hälfte des weltweiten Nachfrageanstiegs im ersten Quartal 2004 ging auf ihr Konto. „China wird auf Jahre hinaus der dynamischste Teilnehmer am Ölmarkt bleiben“, warnt der amerikanische Energieguru Daniel Yergin von Cambridge Energy Research. Irakkrieg hin, Irakkrieg her.

Doch im Grunde muss das so sein. Industrialisierung bedeutet Wohlstandsmehrung. In China geht es um mehr Wohlstand für eine Bevölkerung, deren Zahl an Arbeitsfähigen mit 730 Millionen die aller Industrieländer weit überschreitet. Die große Zahl aber kann nicht verbieten, dass jede Familie irgendwann eine eigene Wohnung und noch später ein Auto besitzt. Das ist zudem zu schaffen – Japan, Südkorea, Taiwan sind längst dort angekommen. Oder nicht?

Ausgerechnet das chinesische Umweltministerium meldet Bedenken an: „Wenn wir auf unserem derzeitigen Weg der traditionellen Industrialisierung fortschreiten, gibt es bei uns keine Aussichten auf eine nachhaltige Entwicklung“, sagt Pan Yue, Vizedirektor der Regierungsbehörde. So habe der Ölverbrauch Chinas in den letzten 20 Jahren um 100 Prozent zugenommen, der Stahlverbrauch um 143 Prozent und der Kupferverbrauch gar um 189 Prozent. Damit sei eine Grenze erreicht. China könne nicht länger das „rohstoffhungrige Entwicklungsmodell des Westens“ verfolgen, das für ein Land mit einer so große Bevölkerung ungeeignet sei. Die Lösung seien vielmehr erneuerbare Energiequellen, Abfallreduzierung und Recycling. Meint das chinesische Umweltministerium in Peking.

Doch die Umweltbeamten können lange reden. Niemand im Westen macht den Chinesen vor, wie ein anderes Entwicklungsmodell aussehen könnte. Stattdessen werden hierzulande Prognosen gestellt. Man malt sich die Zukunft aus – ohne sie zu begreifen. 120 Millionen chinesische Fahrzeuge vom Moped bis zum Lkws bis 2020. Verdopplung des asiatischen Kohlendioxidausstoßes im selben Zeitraum. Der Stahlboom in der Volksrepublik China wäre Anlass, die eigenen Vorhersagen endlich ernst zu nehmen.