„Fliege“ als Fiction

Die ARD-Soap „Marienhof“ scheint zuweilen von der Bundeszentrale für politische Bildung produziert. Aber sie soll wieder authentischer werden

VON CHRISTOPH SCHULTHEIS

Frage: Glauben Sie, dass die Türkei die Menschenrechte achtet, wenn sie EU-Mitglied ist?

Wow, das ist eine gute Frage. Die Europäische Kommission als wichtigstes Exekutivorgan wird dafür sorgen, dass die Türkei sich daran hält.

Nächste Frage: Und was halten Sie von den Vorwürfen der Union, die SPD setze sich nur für eine Vollmitgliedschaft ein, um die Wählerstimmen der Türken in Deutschland zu bekommen?

Über die einzelnen Motivationen und ihre Richtlinien will ich nicht urteilen. Aber ich denke, die Türkei braucht einen starken Partner in den Punkten Menschenrechte und Wirtschaftsangelegenheiten, und diesen Partner sucht sie.

Was klingt wie ein Interview der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem türkischen Botschafter, stammt – wörtlich – mitten aus dem Unterhaltungsfernsehen, genauer gesagt: aus Folge 2.371 der ARD-Vorabendserie „Marienhof“. Aber ja! Die Fragen stellte ein Schüler, die Antworten gab Sülo Özgentürk, der sympathische Döner-Mann der Seifenoper.

Aber Fragen nach der türkischen EU-Mitgliedschaft sind beileibe nicht die einzigen, die uns die öffentlich-rechtliche Soap derzeit beantwortet: Kann man kirchlich heiraten, wenn einer der Ehepartner nicht getauft ist? Kann man mit über 40 noch ein Kind adoptieren? Und welche Auswirkungen hat eine Chemotherapie auf Körper, Psyche, Alltag, Familie und Freunde?

Wen dergleichen umtreibt, der ist momentan bei „Marienhof“ richtiger denn je. Und wen all das nicht interessiert, erst recht. Denn in der Brust von Mutter Maldini beispielsweise wurde in ebenjener 2.371. Folge ein Mamakarzinom diagnostiziert. Und seither plagt sich nicht nur Frau Maldini mit Risiken und Nebenwirkungen, nein, die ganze Familie bangt und leidet. So ist das eben oder kann es sein.

Was die Umsetzung dieser Drehbuchkrankheit im „Marienhof“ anbelangt, könnte Familie Maldini ebenso gut bei Jürgen Fliege in der Talkshow sitzen. „Eine Belastung nicht nur für den Kranken selbst, die Familie leidet mit“, würde Fliege sagen, und die Maldinis würden erzählen. Man könnte auch eine Doku drüber drehen (oder anschauen), und, anderes Beispiel, die Sache mit der Trauung ohne Taufe kurz im Internet nachschlagen. Und doch ist die Idee, Lebenshilfe als vorabendliche Spielhandlung unters Volk zu bringen, bedenkenswert. „Fliege“ als Fiction, warum nicht?

Es kann schon sein, dass im „Marienhof“, der mit seinen durchschnittlich zwei bis zweieinhalb Millionen Zuschauern fast jeden Tag zu den zehn meistgesehenen ARD-Sendungen zählt, zuletzt ein bisschen liebloser als nötig vor sich hin gebosselt und herumgealbert wurde. Wer weiß, womöglich hat letztlich auch ARD-Programmdirektor Günter Struve interveniert. Angeblich war das so. Zumindest haben, so formuliert es die „Marienhof“-Produzentin Bea Schmidt, die ARD und die Produktionsfirma Bavaria unlängst mal wieder die „dramaturgischen wie auch produktionellen Abläufe hinterfragt“ und festgestellt, „dass das eine oder andere überarbeitungsbedürftig“ sei. Von der Münchner Abendzeitung wurde daraufhin sogar schon „der große Kahlschlag“ beim „Marienhof“ ausgerufen, weil der eine oder andere Darsteller ausgewechselt, die Zuständigkeit innerhalb der ARD geändert, das Drehbuch nachgebessert und eben Produzentin Schmidt als neue Chefin verpflichtet wurde.

Doch Schmidt will vom „Zoff“ hinter den Kulissen nichts wissen: „Wir müssen wieder ein bisschen realistischer, authentischer werden, müssen die Geschichten ausführlicher, entschleunigter erzählen und emotionaler werden“, fasst sie stattdessen lieber den neuen Kurs zusammen und mag zuletzt auch dem Eindruck der „Fliege“-isierung ihrer Soap nicht widersprechen: Selbst wenn die Serie „in erster Linie unterhalten“ solle, könne sie „im besten Sinne auch ein Stück Lebenshilfe sein“. Und wer weiß, vielleicht ist so auch die (jüngst von der Deutschen Krebshilfe ausgezeichnete) Selbstverpflichtung der Bavaria zu verstehen, tragende Rollen beim „Marienhof“ „nicht rauchend darzustellen“. Obwohl: Bei einem Entwöhnungsplot in Echtzeit könnte man doch wunderbar vorm Bildschirm mitmachen, oder?