„Die andere Hälfte der Kunst“

Das Angenehme als Nützliches stiftet im Gebrauch Dauer: Der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg im Interview über die Welt der Gebrauchsdinge und die Rückkehr der Kunst in das Leben, über die Glattmacher von heute und die Liebe zu Löffeln

von MICHAEL KASISKE

taz: Sie haben schon ungewöhnlich früh das Design kunsthistorisch bewertet. War das seinerzeit nicht sehr abwegig?

Tilmann Buddensieg: Nein, keinesfalls. Es gab doch immer die Museen für angewandte Künste und viele Zusammenhänge zwischen dem Design und den so genannten hohen Künsten. Die Welt der Gegenstände und der Dinge ist in meinen Augen „die andere Hälfte der Kunst“. Ein Problem ist nur das mangelnde Gleichgewicht in der Bewertung.

Was war der Ursprung Ihres Interesses?

Bereits zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit habe mich mit jeder Art von liturgischen Gebrauchsgeräten des Frühmittelalters beschäftigt, aber seit den 70er-Jahren Wasserkessel und Ventilatoren von Peter Behrens für die AEG, dann die billige Gebrauchskeramik der 20er- und 30er-Jahre gesammelt.

Sie entwickelten keine Neigung zu Bildern?

Natürlich liebe ich die Malerei zwischen der Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden und der Moderne, habe aber wenig Verständnis für die Medienwissenschaft. Die Realität der Gebrauchsdinge scheint mir ein zentrales Element im Leben des Menschen, wohingegen ein Bild an der Wand und auf der Mattscheibe leicht austauschbar ist.

Auch für ein und denselben Gebrauch können verschiedene Geräte benutzt werden.

Sicher, doch die Dimension eines Brauchens ist für mich von größerer Wichtigkeit. Es war Nietzsche, der ein außerordentliches Interesse an den Gebrauchsdingen, ihrer Wahrnehmung und psychischen Wirksamkeit entwickelt hat.

Hat sich Nietzsche mit Gestaltung befasst?

In immer neuen Varianten hat Nietzsche über den Umgang mit den Dingen des Wohlbefindens in ihrem täglichen Gebrauch, über den Zusammenhang des Schönen mit dem Nützlichen und dem Notwendigen nachgedacht. Das Angenehme als Nützliches stifte im Gebrauch Dauer, während es als bloß Schönes im Gemälde nur Augenblickliches erschaffe.

Können Sie uns das näher erläutern?

Nietzsche beschreibt das Schöne eines Bildes als sozusagen schockartiges, momentanes Erlebnis, während das Nützliche an einem schönen Gegenstand langfristige Emotionen hervorruft.

Das gestaltete Objekt ist als ein allgegenwärtiger Kunstgegenstand zu verstehen?

Die Rückkehr der Kunst in das Leben beseelte die Kunstgewerbereformer vor 1900. Das waren in München überwiegend Maler, die ihre Pinsel buchstäblich weggeworfen hatten, weil sie eine wirksamere Form der „Ausstattung des Lebens“ anstrebten, wie Thomas Mann sagte, anstelle der Ausstattung der Museen mit Bildern.

Welcher Designer war für die Ausstattung Ihres persönlichen Lebens von besonderer Bedeutung?

In der Vergangenheit sind es Behrens, das Bauhaus, die Produktgestalter der Weimarer Zeit, dann Wilhelm Wagenfeld gewesen. Ich kannte Wagenfeld persönlich sehr gut und habe frühzeitig eine umfangreiche Sammlung seiner Produkte zusammengetragen. Seine Gläser sind einfach vollkommen gestaltet.

Sie meinen die Serien der 1930er-Jahre, die er für die VLG, die Vereinigten Lausitzer Glaswerke in Weißwasser, entwarf?

Genau. Dorthin wurde Wagenfeld von einem gewissen Karl Mey berufen. Mey hatte um 1908 als junger Mitarbeiter in der Glühlampenfabrik der AEG miterlebt, wie der „Unternehmensgestalter“ Peter Behrens eingeführt wurde. Er berichtete, dass Emil Rathenau jeden der vielen Kritiker gehen ließ, der die radikal neue „Corporate Identity“ nicht mittragen wollte.

Behrens entwickelte erstmals ein „Corporate Design“?

Was Mey in der AEG vor 1914 so beeindruckt hatte, dass er es fast 30 Jahre später als Aufsichtsratsvorsitzender der VLG aufgriff, war die Schaffung des so genannten kulturellen Überschusses in der industriellen Produktion. Konsequent gab Mey Wagenfeld ab 1935 alle Freiheiten, nahezu sämtliche Glaswaren dieses größten europäischen Hohlglas-Herstellers umzugestalten.

Was mir auch gelungen erscheint. Erstaunlich ist allerdings die Verbindung zu Rathenau und Behrens, die dem Bauhaus vorausging, an dem Wagenfeld studiert hatte.

Walter Gropius hat 1964 an Wagenfeld geschrieben, dass niemand die Idee des Bauhauses so „zu überzeugender Realität gebracht“ habe, „niemand ist so weit gegangen“, womit er die Gestaltung der Massenproduktion meinte. Dieses Aufdecken der Verbindung AEG–Bauhaus–VLG Weißwasser interessiert mich als Designhistoriker.

Wobei es sich um die klassische Form des Designs handelt …

… dessen Ende Wagenfeld definiert, als er 1966 bei der WMF praktisch ausstieg. Er stellte fest, dass seine Entwürfe von drittklassigen Produktgestaltern glatt gebügelt und verkäuflich gemacht wurden. Das hat Wagenfeld treffend zusammengefasst: „Die Glattmacher von heute“, so sagte er, „sind die Schnörkelmacher von gestern.“

Können Sie trotzdem einen bedeutenden Designer der Gegenwart nennen?

Der Mailänder Produktgestalter Enzo Mari, dessen heute ebenfalls schon klassisches, beinahe prähistorisches Vorgehen ich im Jahr 1993 bei der KPM, der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin, erfahren und bewundern konnte. Wie einst Wagenfeld hat er in monatelanger Zusammenarbeit eine Arbeitsgruppe gebildet, die vom Entwurf bis zur Produktion alle Elemente durchgearbeitet hat.

Das Ergebnis war das Geschirr „Berlin“ …

… das jahrelang liegen gelassen wurde. Nunmehr ist es nach „Kurland“ das erfolgreichste Produkt der KPM. Als Vorsitzender des künstlerischen Beirats der KPM versuchte ich vergeblich, den Mari-Entwurf in die Produktion zu bringen. Das gelang erst, als Alessi das ganze Projekt aufkaufen wollte.

Wie steht Mari selbst zu seiner Profession?

Bei einer Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe 1997 sagte er, der aussieht wie einem Caravaggio-Gemälde entstiegen, zu den feinen Besuchern: „Die Scheiße steht mir bis hier“, und unterstrich den Stand der Zumutungen mit der flachen Hand am Hals. Hat er nicht Recht? Die industrielle Massenproduktion droht uns zu beerdigen.

Der Konsument muss sich einen Gegenstand aneignen, nicht nur kaufen.

Wie Nietzsche sagte: Gegenstände des Gebrauchs haben im Leben einen Platz und nicht als Bilddekoration an der Wand. Oder wie Wagenfeld sagte: Einen Eisschrank könne man benutzen, einen Löffel gebrauchen und lieben.