Modernisierer der Demokratie

Das politische Klima in Deutschland hat von den sozialen Bewegungen profitiert, finden die Bewegungsforscher Roland Roth und Dieter Rucht. Diese präsentieren sie in einem Handbuch

„Die vorgesehene Kundgebung auf dem Marktplatz von Obernburg wird nicht genehmigt, weil dadurch am Samstagnachmittag Ruhestörungen und Belästigungen zu erwarten sind“, heißt es im Schreiben eines bayerischen Landratsamt an die Ostermarschierer Anfang der 60er-Jahre. Demonstriert werden dürfe nur auf „Feldwegen und Landstraßen 3. Ordnung“. Parolen und Flugblatttexte seien der Behörde vorab vorzulegen.

Sicher machen Demonstranten gelegentlich auch heute noch ähnliche Erfahrungen. Dennoch sind Massendemonstrationen seit den 70er-/80er-Jahren ein normaler Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik. Dies ist vor allem ein Verdienst der sogenannten neuen sozialen Bewegungen, also insbesondere der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung, die in den 80er-Jahren für rund 75 Prozent aller Proteste in Deutschland sorgten.

Man könnte die Geschichte dieser Bewegungen als eine Geschichte des „erfolgreichen Scheiterns“ erzählen. Das schlagen Roland Roth und Dieter Rucht vor, die gemeinsam ein Handbuch über „die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945“ herausgegeben haben. Meist haben die Protagonisten zwar ihre visionären Ziele nicht erreicht, doch konnten sie oft die gesellschaftliche Atmosphäre verändern und dabei ihre Themen auf die politische Tagesordnung setzen.

Aber was ist eigentlich eine soziale Bewegung? Die Bewegungsforscher Roth und Rucht beantworten das erst einmal negativ: Eine soziale Bewegung zielt nicht auf die große Revolution. „Es geht eher um Projekte in der Gesellschaft als um die Gesellschaft als Projekt.“ Gleichzeitig ist eine Bewegung aber auch mehr als eine bloße Bürgerinitiative. Eine Bewegung will die große Politik verändern und nicht nur örtliche Vorhaben blockieren oder durchsetzen. Allerdings ist manche zunächst begrenzte Bürgerinitiative im Lauf ihrer Kämpfe, ihres Lernens und ihrer Entwicklung doch zum Teil einer Bewegung geworden, etwa beim Widerstand gegen neue Atomkraftwerke.

Gerade zwischen den neuen sozialen Bewegungen, mit ihrer Hochzeit in den 80er-Jahren, gab es viele personelle und inhaltliche Überschneidungen. Roth/Rucht sprechen daher von einer „Bewegungsfamilie“, aus der ja auch die Grünen als anfängliche Bewegungspartei entstanden sind. Das Handbuch soll allerdings keine Rückschau auf eine abgeschlossene Epoche bieten. Wie die globalisierungskritischen Proteste gegen den G-8-Gipfel von Heiligendamm gezeigt haben, sei die Zeit der Bewegungen nicht vorbei, betonen die Autoren in ihrem instruktiven und dichten Einleitungskapitel.

Das Handbuch versteht sich vor allem als breit angelegtes Nachschlagewerk. Nach Überlegungen zu den politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen werden zwanzig Bewegungen näher vorgestellt, von der Arbeiterbewegung bis zur Kampagne gegen Bio- und Gentechnik. Viele Autoren sind renommierte Wissenschaftler wie Wilhelm Heitmeyer, Ute Gerhard oder Arno Klönne. Die Autoren sympathisieren überwiegend mit den beschriebenen Bewegungen, den meisten gelingt dennoch die nötige analytische Distanz.

Während man heute unter Bewegungen fast automatisch etwas Progressives und Lebendiges versteht, war dies nicht immer so. Bis in die 70er-Jahre hinein stand der Bewegungsbegriff teils unter NS-Verdacht, teils galten soziale Bewegungen als per se antimoderner, romantischer Irrationalismus. Das ist heute anders. Bewegungen gelten als Ausdruck lebendiger Demokratie, Protest als gutes Recht von Minderheiten und oppositionellen Strömungen. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist nicht mehr der Störfall, der die Institutionen bedroht, sondern die Normalität einer demokratischen Gesellschaft.

Dass diese auch eine braune Kehrseite hat, wird bei Dieter Rucht und Roland Roth nicht verschwiegen. Es ist zwar mutig, aber nur konsequent, wenn sie in ihren Querschnittsbetrachtungen die rechtsradikale und fremdenfeindliche Bewegung stets mitdenken. Sogar im Hauptteil wird den Rechtsextremisten ein eigenes Kapitel zuteil, geschrieben von dem Verfassungsschützer Thomas Grumke. Er arbeitet dabei die Wechselwirkung heraus, dass die Rechten den Staat und die etablierte Politik umso stärker ablehnen, je mehr dieser Anliegen der linken Bewegungen aufgreift und sich zu eigen macht. CHRISTIAN RATH

Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): „Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch“. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2008, 770 Seiten, 49,90 Euro