Die unglückliche Braut

AUS DAMASKUS KRISTIN HELBERG

Ein rotweißer Schlagbaum versperrt den Weg, die syrische Fahne baumelt daran. Davor sitzt Naschua in einem weißen fein bestickten Brautkleid auf einem Plastikstuhl. Etwa einhundert Meter weiter ein massives gelbes Eisengitter mit einem Schild darüber: „Welcome to Israel“. Dahinter steht Dschaber in dunklem Anzug und weißem Hemd. Naschua und Dschaber werden ihren Hochzeitstag zwischen Weinen und Lachen verbringen, denn was aussieht wie ein normaler Grenzübergang, ist eine abgeriegelte Waffenstillstandslinie.

Nicht syrisches und israelisches Staatsgebiet treffen hier aufeinander, sondern syrisches und israelisch besetztes Gebiet. Keine Nachbarn, sondern Kriegsparteien. Offiziell heißt der rotweiße Schlagbaum deshalb Bravo-Tor, das gelbe Gitter Alpha-Tor. Das klingt neutraler und ist politisch korrekt.

Normalerweise ist am Bravo-Tor nicht viel los. Ein syrischer Soldat öffnet den Schlagbaum von Hand, um UN-Fahrzeuge passieren zu lassen. Ein paar freundliche Worte – „How are you? Have a nice day!“ –, dann herrscht wieder Ruhe. Nur Vertreter der Vereinten Nationen dürfen zwischen beiden Seiten pendeln, erklärt Stefan May. Er ist Presseoffizier der UN-Mission. Es sei ein bisschen wie an der früheren innerdeutschen Grenze. „Stacheldraht, Niemandsland, Minenfelder, Wachtürme – das erinnert an den jahrzehntelangen Zustand des Sichbelauerns.“

Im Gegensatz zu Deutschland gebe es auf dem Golan jedoch keine Fluchtversuche und damit auch keine Toten, sagt May. „Die Waffenstillstandslinie ist einfach dicht, eine tote Grenze.“ Ein toter Streifen, kein Todesstreifen.

Ungeliebte Mitbewohner

Die Menschen auf dem Golan haben keinen Grund zum Fliehen. Im Gegenteil. Sie haben gute Gründe zu bleiben, wo sie sind. Die 19.000 Syrer auf der israelischen Seite harren unter der Besatzung aus, um den Anspruch Syriens zu bekunden. Sie haben Arbeit, Zentralheizung und neuere Kühlschränke als ihre Landsleute auf der syrischen Seite. Dafür sind sie ungeliebte Mitbewohner, staatenlos und ohne Reisefreiheit.

Die 50.000 Syrer auf der syrischen Seite sind froh, wieder auf ihrem Land zu leben. Sie waren während der beiden Kriege 1967 und 1973 in Richtung Damaskus geflohen und sind in den vergangenen Jahren zurückgekehrt. Sie betreiben Landwirtschaft, arbeiten als Handwerker, haben kleine Läden oder sind beim syrischen Staat angestellt.

Die 14.000 Israelis auf der israelischen Seite sind auf dem Golan angesiedelt worden, auf dass das Gebiet israelisch bleibe. Sie haben alles, was sie brauchen: Zentralheizung, neue Kühlschränke, breite Asphaltstraßen für moderne Autos – und die Reisefreiheit.

Wer sollte also wohin fliehen?

Statt Fluchtversuche gibt es auf dem Golan Heiratszeremonien. Jede Hochzeit ist ein kleiner Sieg, weil dabei die Waffenstillstandslinie überwunden wird. Naschua sieht auf ihrem Plastikstuhl allerdings nicht aus wie eine Siegerin. Ihre Miene ist gequält, als leide sie Schmerzen. Für die 21-Jährige bedeutet die Heirat ein Abschied für immer.

Dschaber, der junge Bräutigam hinter dem gelben Eisengitter, stammt aus Madschdal Schams, einem Ort auf der israelischen Golanseite. Er hat in Damaskus studiert und in Naschuas Nachbarschaft gewohnt. Die beiden verliebten und verlobten sich, und als sie nach vier Jahren beschlossen zu heiraten, war für Naschua klar, dass sie mit ihm gehen würde. Als Syrerin auf den israelisch besetzten Golan zu ziehen, empfindet sie inzwischen fast als eine politische Tat. Sie gehe von einem Zuhause in ein anderes Zuhause, sagt Naschua und bemüht sich, zuversichtlich zu klingen. „Natürlich bin ich aufgeregt, weil ich meine Familie und Freunde heute zum letzten Mal sehe, aber wir vertrauen auf Gott und auf unseren Präsidenten, dass wir alle irgendwann zurückkehren können.“ Die junge Frau blickt auf die etwa 40 festlich gekleideten Menschen um sich herum und fügt leise hinzu: „Ich hoffe einfach, dass ich wiederkomme.“ Ihre Stimme bricht, sie muss schlucken. Drei Tage und Nächte habe sie nicht geschlafen, erzählt Naschua. Das sorgfältig aufgetragene Make-up kann ihre rot geweinten Augen nicht verbergen.

Langwierige Kontrollen

Hischam, ein junger Student, beobachtet die Hochzeitsgesellschaft von weitem. Auch er stammt aus Madschdal Schams und hat in Damaskus studiert, im Gegensatz zu Dschaber hat er sich dabei nicht verliebt. „Ich halte nichts davon, ein Mädchen aus Syrien zu heiraten und sie mit auf den besetzten Golan zu nehmen“, sagt Hischam. „Sie kann ihre Familie nie besuchen und wird ständig an sie denken.“ Er sehe diese jungen Frauen in seinem Heimatdorf. Die innere Zerrissenheit mache sie völlig fertig.

Mit einem Rucksack über der Schulter und einer Tüte in der Hand wartet der 25-Jährige wie Naschua darauf, Bravo- und Alpha-Tor passieren zu können. Im Gegensatz zur jungen Braut sind die langwierigen Kontrollen für Hischam Routine. Fünf Jahre lang hat er in Damaskus englische Literatur studiert. Zweimal im Jahr durfte er die Waffenstillstandslinie überqueren, um im Sommer die Familie zu besuchen. Diese offiziellen „Student-Crossings“ werden vom Roten Kreuz organisiert und von den Vereinten Nationen bewacht – sonst gäbe es keine Kontakte zwischen den Bewohnern des israelisch besetzten Golan und Syrien. Hischam hätte nicht in Damaskus studieren können, Dschaber und Naschua wären sich nie begegnet.

Zusammen mit 20 anderen kehrt Hischam heute für immer auf die israelische Seite zurück. Sein Studium ist abgeschlossen. Der junge Mann wirkt entspannt. Klar werde er vieles vermissen, das Miteinander, die Herzlichkeit der Leute. „In Syrien lebt es sich besser, weil ich einer von ihnen bin und es keinen Rassismus gibt.“ Trotzdem habe er keinen Moment darüber nachgedacht, in Syrien zu bleiben, sagt Hischam. „Drüben kann man mehr Geld verdienen.“

Sein Freund Ahmed hat insgesamt sogar sieben Jahre in Syrien gelebt. Auch er kehrt endgültig zurück ins besetze Gebiet – aus politischen Gründen. Wenn jeder, der zum Studieren nach Syrien gehe, bleibe, sei bald keiner mehr „drüben“, erklärt er. „Wir müssen dort ausharren, bis die Zeit der Besatzung vorbei ist, und unser Land verteidigen.“

Mit einem Quietschen öffnet sich der rot-weiße Schlagbaum. Hischam und Ahmed verabschieden sich von den Freunden. Sie umarmen sich, klopfen einander auf die Schulter, küssen sich auf die Wangen. Feisa, eine schlanke, junge Frau, klammert sich an ihre Freundin Salam. Die beiden haben jahrelang in Damaskus zusammengewohnt, ihre Gesichter sind tränenüberströmt. Behutsam löst Ahmed seine Kommilitonin aus der Umarmung und zieht sie mit sich in Richtung Alpha-Tor.

Ein Lkw der Vereinten Nationen transportiert ihr Gepäck. Nach etwa 50 Metern dreht Feisa sich plötzlich um und läuft zurück. Bitterlich weinend beugt sie sich über den Schlagbaum und fällt Salam um den Hals. Die Körper der beiden zucken unter Tränen.

Seit Jahrzehnten spielen sich hier die gleichen Szenen ab. Solange der Krieg nicht endet, gehen auch die menschlichen Tragödien weiter. Seit 30 Jahren unter den Augen der UNO. Haben die Vereinten Nationen auf dem Golan versagt? Politisch ja, meint Presseoffizier Stefan May, denn es gebe noch immer keinen Friedensvertrag. „Militärisch ist die UNO-Mission aber ein Erfolg. 30 Jahre lang hat hier kein Krieg mehr stattgefunden“, sagt May. Das sei in dieser Region sehr beachtlich.

Naschua, die junge Braut, hat sich von dem Plastikstuhl erhoben. Ihre engsten Verwandten werden aufgerufen und schlüpfen der Reihe nach unter dem rot-weißen Schlagbaum hindurch. Vater, Mutter, vier Brüder und Schwestern und die Großeltern dürfen mit zum Checkpoint Charlie. An dem kleinen weißen UN-Häuschen zwischen Alpha- und Bravo-Tor werden sich Braut und Bräutigam zur offiziellen Zeremonie treffen. Der Vertrag wird unterschrieben, die Ringe werden getauscht. Eine halbe Stunde dürfen die beiden Familien zusammen feiern. Dann wird Naschua mit Dschaber auf die israelische Seite gehen, ihre Eltern und Geschwister kehren nach Syrien zurück.

Naschuas Name wird als letzter aufgerufen. Verwandte und Freunde, die nicht mit zum Checkpoint dürfen, versuchen, den Abschied so schmerzlos wie möglich zu machen. Sie nehmen Naschua kurz in den Arm. Was zu sagen war, ist längst gesagt. Naschuas Kloß im Hals ist jetzt zu groß zum Schlucken, sie lässt die Tränen einfach fließen.

Die UNO-Soldaten stehen hilflos umher. Sie kontrollieren eine Waffenstillstandslinie, auf der Heirats- statt Friedensverträge geschlossen werden. „Sieht man selten, so traurige Bräute“, sagt der Presseoffizier May mit belegter Stimme. „Sobald diese Waffenstillstandslinie belebt ist, merkt man erst, wie tragisch sie eigentlich ist.“ Dann geht Naschua los, sie blickt nicht mehr zurück. Schritt für Schritt nähert sie sich dem gelben Eisengitter und der Schrift darüber: „Welcome to Israel“.