Kinnlade unten, ganz weit

Es ist schwer zu fassen, wenn sich zwei Fünfzehnjährige bewusst für ein Kind entscheiden. Und dann noch mein kleiner süßer Bruder, der zuhause mehr oder weniger behütet ein recht ruhiges Schülerleben führte. Jetzt ist Janic-Luca da und wird seinem Vater das Leben zeigen

„Wie geht es denn deinen Brüdern?“ fragt mich ein Freund, und mir fällt ein, wie lange ich sie schon nicht mehr gesehen habe, wie lange ich sie nicht mehr gesprochen habe. Wir sind fünf Brüder, alle leben in verschiedenen Städten, lieben verschiedene Menschen, sind in vielerlei Hinsicht der allerunterschiedlichsten Auffassungen. Und während zwei von uns studieren, einer arbeitslos ist und zwei zur Schule gehen, ist es der allerjüngste, der am weitesten weg wohnt von allen und stets alle am meisten interessiert.

Ich antworte meinem Freund, dass es alle mehr oder weniger gut getroffen haben mit ihren Schicksalen (ich bin ja auch stolz auf sie), komme aber dann direkt auf meinen kleinen Bruder zu sprechen. Denn keine zehn Monate ist es her, dass meine Eltern ihn fünfzehnjährig hatten ziehen lassen ins tiefschwarze Bayern, nach Garmisch-Partenkirchen, zu seiner Freundin. Kurz zuvor war er von ebendort aus dem Urlaub zurück gekommen und hatte unseren Eltern erklärt: „Meine Freundin ist schwanger.“ Na Prost.

Letzten Monat haben wir dann tatsächlich alle angestoßen auf die Geburt des kleinen Janic-Luca, sind runtergefahren nach Bayern, das Baby im Arm schaukeln, auf Berge klettern.

Aber zuerst ist allen die Kinnlade nach unten geklappt, ganz weit. Als erste (wie fast immer) kam unsere Mutter mit der Situation zurecht. Selbst schon fünfe zur Welt gebracht, hatte sie aber keine Zweifel, dass die ebenfalls fünfzehnjährige Freundin meines Bruders schon wüsste, was und wie sie es täte.

Natürlich: Zunächst versuchten trotzdem alle, ihn umzustimmen. Aber wen oder was gibt es schon umzustimmen? Ich bin sofort hin zu ihm, fragen. Was habt ihr euch dabei gedacht? Schon mal von Verhütung gehört? Pille danach? Abtreibung? Es war schwer zu fassen, dass zwei Fünfzehnjährige sich bewusst und mit dem Wissen um alle Folgen für ein Kind entscheiden. Und dann noch mein kleiner süßer Bruder, der zuhause mehr oder weniger behütet ein recht ruhiges Schülerleben führte, mit Elternzwist, abends Längerwegbleibenwollen, ersten Alkoholräuschen (ich hab einen mal miterlebt und war begeistert. Ich hab die ganze Nacht mit meinem kleinen Bruder getanzt.)

Alles, was Fünfzehnjährige so durchmachen, machte mein Bruder auch. Aber jetzt wollte er Vater werden. Also: Noch nie was von Verhütung gehört, Pille danach, Abtreibung?

Na, meinte er, doch. Und ja. Die Schwangerschaft war nicht geplant. Aber seine Freundin und er hätten sich direkt für das Kind entschieden, eine Abtreibung kam nicht in Frage. So lange ihre Liebe nicht in Frage steht, wird es immer gehen, hat er gesagt.

Natürlich, ich war stets drauf und dran, in Frage zu stellen, ob er mit dann 16 Jahren, ob er, der noch nicht richtig auf eigenen Füßen gestanden hat, der noch nie richtig auf die Schnauze gefallen ist, der sich mir noch nie richtig als belastbar bewiesen hatte, ob er in der Lage sei, ein Kind haben zu können.

Ich ließ es bleiben. Da an ihrer Entscheidung nicht zu rütteln war, entschied ich mich meinerseits, die beiden so gut ich kann, zu unterstützen. Schließlich wollte ich meinen Bruder nicht von meiner Meinung überzeugen, nur wissen, wie umsichtig und weitsichtig er ist. Doch so souverän er mir auch vortrug, dass er ein Kind lieben und versorgen konnte („außerdem, Rob: Früher war das ganz normal“), meine Zweifel verließen mich nie ganz.

Auch nicht, als er längst im bayerischen Elternhaus seiner Freundin wohnte, weit weg von hier (mir wäre Oldenburg lieber) – in mein Zutrauen mischten sich Ängste, ob er sein letztes Schuljahr schafft, ob er in der Lage ist, sich selbst und seiner Verantwortung bewusst zu sein. Die Große-Bruder-Perspektive sagte mir: Nein, ist er nicht, war er noch nie. Das lernt man langsam, und vor allem: alleine.

Zweitens könnte sich der auch gewünschte Effekt, mit dem Auszug aus Oldenburg mehr Unabhängigkeit zu erlangen, gut ins Gegenteil verkehren: aus einem Elternhaus ins nächste. Dazu kein eigenes Zimmer – (und schwangere Freundinnen sind ja auch nicht immer der pure Sonnenschein). Zudem: Er muss möglichst schnell in der Lage sein, Geld zu verdienen. Mehr Druck gratis. Weniger Schlaf garantiert. Teenie-Eskapaden ade.

So dachte ich, der ich selbst mit 15 den größten Unsicherheitsfaktor meines eigenen Lebens dargestellt hatte.

Natürlich: mein kleiner Bruder, mit dem Vertrauen, etwas zu tun, was ausnahmsweise keiner seiner vier älteren Brüder vor ihm getan hatte, er sollte mich eines Besseren belehren. Meine Angst, ein Baby könnte ihm die Sicht auf sein eigenes Leben verstellen, ihn daran hindern, sich selbst zu entfalten, sie war verschwunden, als mir klar wurde, dass es von jetzt an Janic-Luca sein wird, der meinem Bruder das Leben zeigt, der ihm klarmacht, was er kann und was nicht. Der ihm die Wege schon zeigen wird, in denen sich sein Lernen und sein Können weiter entfalten wird.

Robert Best