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Scheusal Europa

In seinem Dokumentarfilm „Die Mitte“ besucht Stanislaw Mucha die vielen geografischen Mittelpunkte unseres Kontinents – und findet an dessen Rändern Existenznot und Galgenhumor

VON INES KAPPERT

„Wir suchen die geografische Mitte Europas.“ Diese in freundlichem Ernst gestellte Frage richtet Stanislaw Mucha, der Regisseur von „Die Mitte“, an jeden, der ihm über den Weg läuft. Und nur einer der Befragten ist konsterniert und hat keine Antwort. Kein Witz. Der europäische Mittelpunkt wird von vielen reklamiert und findet sich somit in Deutschland, Österreich, Polen ebenso wie in der Slowakei, Litauen oder der Ukraine. Nach dem 1. Mai hat Frankreichs Geografisches Institut die Mitte wieder nach Deutschland wandern lassen, genauer ins Rheinland-pfälzische Dorf Kleinmascheid. Aber das konnten Mucha und sein Team noch nicht wissen.

Die charmante und von einem unerschütterlichen Humor getragene Dokumentation des Filmemachers, der zuletzt mit „Absolut Warhola“ einen Publikumserfolg erzielte, sucht sämtliche Mittelpunkte auf. Denn wer die Mitte einmal zuerkannt bekam, gibt sie nicht mehr her. Und dass man sich nicht täusche: Immer ist sie amtlich, die Mitte. Es gibt nicht nur ein Schild, sondern auch einen Denkmal, und es gab eine Einweihung mit Bischof, Bürgermeister und einmal gar dem Papst, beteuern unbeugsam die Zeitzeugen.

Zunächst führt die Reise immer der Mitte nach ins hessische Kölbe, just in den mit Gartenzwergen bevölkerten Vorgarten eines beflissenen Hessen. Wenn hier die Mitte sei, wo sei dann das Ende von Europa? Der Mann zögert einen Moment. Darüber habe er sich noch nie Gedanken gemacht. Aber das sei eine gute Frage. Schließlich: „Das geht ja als weidder, mit der EU.“ Das Filmteam zieht weiter und stellt in seinem mit einfachsten filmischen Mitteln gedrehten Film über Geisteshaltung und Alltag jenseits von Europas Metropolen seine immer gleiche Frage. Nie wird es ausgelacht. Das ist fast unheimlich. Insbesondere in deutschsprachigen Landen gibt man sich satt europäisch und klammert sich siegesgewiss an den Gedanken, wenigsten in einem Koordinatensystem das Zentrum zu stellen.

Je weiter die Odyssee in die östlichen Länder Europas führt, desto kritischer werden die Töne gegen Europa, Mitte hin oder her, und die ernorme Armut an den europäischen Peripherien springt dem Zuschauer ins Auge. Dessen ungeachtet weist man hilfsbereit den Weg zum nächsten Mitte-Denkmal. In Krahule, Slowakei, prangt unweit davon ein riesiges Plakat mit der unbekleideten Hinteransicht von sechs oder sieben Menschen: „In die europäische Union, aber nicht mit nackten Ärschen“, steht darunter. Den in die Jahre gekommenen Dorf-Alkoholiker erfreut’s.

Obwohl die Dokumentation den Zufall über ihre Gesprächspartner entscheiden lässt, sind es zunehmend die vom Neuen Europa Vergessenen, die Älteren und Alten, denen die Kamera folgt. Die Studie über Absurditäten im gegenwärtigen Europahype entwickelt sich immer mehr zur Reportage über Ansichten und Lebensumstände, letztlich über die Existenznot jenseits der europäischen Zentren. Sie zeigt die schattige Seite des Konstrukts Europa.

Von enttäuschten Hoffnungen, durch Europa Teil einer funktionierenden Zivilgesellschaft zu werden, berichtet etwa eine Bäuerin in Litauen. Und vom Hunger. „Was ist das für ein Scheusal, dieses Europa!“, erklärt sie. „Wir haben hier nichts zum Leben, und die machen aus allem Europa!“ Ein Mann um die 40 beschriebt die Desorientierung: „Früher wurden wir zur Arbeit gejagt. Jetzt bist du frei und läufst hungrig rum.“ Ein Älterer greift historisch noch etwas weiter zurück, und doch umreißt er seine Gegenwart präzise: „An der Front war es viel angenehmer, da war alles klar. Du hattest ein Pferd, du hast es geritten, bis sie es dir abgenommen haben. Weiter ging’s zu Fuß, aber es ging.“ Seine Frau lacht auf und nickt.

Als Nächstes erreichen wir die Ukraine – und hier stellt sich die Frage nach dem Leben an einem vergessenen Ort und in einer stillgestellten Zeit auf besonders charmante Weise. Für eine Weile richtet sich die Kamera in einem Zeitungskiosk ein und beobachtet von dort das Treiben in der kleinen Stadt Rachiv. Auf einmal zieht die Besitzerin leicht verlegen ihren roten, ein wenig eingestaubten Wecker auf. Für die Gäste. Sie streicht sich die Haare zurück, sie will nicht verschlafen wirken. Ob sie sich nach der europäischen oder nach Kiewer Zeit richte, fragt Mucha. Sie ist unentschieden und in ihrer Höflichkeit übernimmt sie die Zeit, die die Uhr ihres Gastes anzeigt: Kiewer Zeit.

Ihr Entgegenkommen sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man in Rachiv auf Europa vorbereitet ist. Entsprechend ziehen zumindest die Erwerbstätigen die neue, europäische Zeitrechnung vor. Sie müssen dann zwei Stunden zurückrechnen, um den Bus zu erwischen. Aber das sei kein Problem. Die anderen, die Arbeitssuchenden, für die sich neuen Europa keine Verwendung finden wird, brauchen keine Uhr mehr. Sie haben sich mit Schnaps zufrieden zu geben.

Am Ende begegnet das Team einem kapitalistisch aufgeklärten Schweizer Pärchen auf Fahrradtour. Es macht gerade an einem der vielen „Hier ist Europas Mitte“-Stein Rast. Auf den Hinweis, dass es viele europäische Mittelpunkte gebe, reagieren sie gelassen und merken sachlich die schlechte Vermarktung der hiesigen Mitte an. Prompt zeigt auch noch ihr CPS an, dass der Stein sich gar nicht auf dem in ihn eingeritzten Breitengrad befinde. Kurzerhand schlagen sie sich ins Gestrüpp. Jetzt wollen sie es wissen, der Schlamperei auf den Grund gehen und die koordinatenmäßig richtige Mitte finden. Ihre kurzen Hosen und die unvermeidlichen Schrammen können sie nicht aufhalten. Die Kamera folgt ihnen stoisch.

„Die Mitte“. Regie: Stanislaw Mucha. Deutschland 2004, 85 Min.

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