Lauter Passagenwerke

Favela und Upperclass, Arbeitslosigkeit und Business-Life: Das Arsenal zeigt in der Reihe „Brasil, 40 Grad“ brasilianische Spiel- und Dokumentarfilme, bei denen es um beide Seiten der Gesellschaft geht

von PATRICK BATARILO

Straßen. Häuserfronten. Blicke darauf, aus Bussen, Autos, Taxis. Die entscheidenden Szenen im Neuen Brasilianischen Film spielen sich draußen ab. Es sind Übergänge, Passagen. Jemand muss abreisen, doch was ist das Ziel? In „Rua 6 Sem Número – 6. Straße, ohne Nummer“ von João Batista de Andrade sucht der Protagonist vergeblich nach einem Ort in der Hauptstadt Brasília. Nur den Namen der Straße kennt er – doch eine „6. Straße“ gibt es in jedem Stadtteil, ja überall in Brasilien. So durchquert er ziellos suchend die Stadt, in der er lebt und die er zu kennen glaubte – von den Repräsentationsbauten des Zentrums bis in die Blechstädte der Favelas.

Vor allem diese Passage von den reichen in die armen Bezirke – die durch keinen Mittelstand abgepufferten Extreme der brasilianischen Gesellschaft – steht im Zentrum. Ein international erfolgreicher Film wie „City of God“, der im Arsenal bereits am 2. 7. lief, wirkt in diesem Rahmen wie eine Ausnahme: Die brillante Gettosaga führt die Gewaltmechanismen der Favelas vor, verharrt aber diesseits der Grenze zur urbanen Upperclass. Andere brasilianische Filme der letzten drei Jahre setzen dagegen darauf, Identifikationsmechanismen auf den Kopf zu stellen. Wie in einem Experiment werden die zwei Seiten der Gesellschaft konfrontiert und Übergänge zwischen ihnen erprobt und befragt. Mögen diese Filme auch technisch weniger perfekt sein als „City of God“, so sind sie doch politisch kontroverser, ohne dabei weniger unterhaltsam zu sein.

Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz ist der Film „O Invasor – Der Eindringling“ von Beto Brant. Zwei Geschäftsleute heuern Anisio, einen Killer aus der Favela, für einen Auftragsmord an. Der erledigt seinen Job, will dann aber mehr als die vereinbarte Prämie und verlangt, in der Baufirma seiner Auftraggeber mitzuarbeiten. Natürlich wittert man sofort Moral: Sollte es etwa nur um die Integration ausgegrenzter sozialer Schichten gehen? Identifiziert man sich zu Beginn noch mit den Gewissensbissen und Ängsten Ivans, des integreren der beiden Geschäftsleute, so lässt der Film das Bild des gequälten Denkers bald ins Lächerliche umschlagen. Anisio hingegen, der Auftragskiller, entpuppt sich als charmanter, tatkräftiger und witziger als sein Gegenspieler.

Doch der Film ist klug genug, dem Killer ausreichend Geheimnisse zu lassen, um nicht in ein neues idealisiertes Stereotyp zu verfallen: Anisios Hin und Her zwischen Favela und Upperclass, HipHop und Techno, Arbeitslosigkeit und Businesslife bleibt psychologisch mehrdeutig. Nicht die Botschaft von der moralischen und geistigen Überlegenheit des Gettos ist das Ziel, sondern das Spiel mit den Erwartungshaltungen der Zuschauer. Gerade darin besteht die Brisanz des Films. Obwohl „O Invasor“ Sozialkritik hervorbringt, will er nicht belehrend sein.

In anderen Filmen ist das ähnlich: Statt auf Plot-Realismus setzt man zur Motivierung der Geschichten auf das Unwahrscheinliche, bisweilen auch Magische, aber auch auf „Sex and Crime“. Das steigert den Unterhaltungswert, birgt aber Gefahren: Möchte man wirklich seine Uhr nach den Sexszenen stellen können? In formaler Hinsicht gilt Ähnliches: Ein Film wie „Seja o que deus quiser – Que serah, serah“ von Murilo Salles – auch hier begibt sich ein Gettoangehöriger in die reichen Bezirke der Großstadt – schwankt ästhetisch zwischen Experimentalfilm und Videoclip: Die Schnitte sind extrem schnell, die Handkamera sorgt für den nötigen Touch „Authentizität“, Licht, Schärfe und Zoom werden sehr frei verwendet.

Das funktioniert oft sehr gut. Doch bisweilen nimmt die Clipästhetik auch überhand. Dann wirken die Filme – das gilt selbst für die Dokumentationen, die die „Passagen“ eher im Verhältnis der Großstädte zum armen ländlichen Norden des Landes suchen – anbiedernd und überfrachtet. Andererseits trägt gerade die Nähe zum Musikclip oft zum Gelingen der Filme bei. So ist die auffällige Präsenz brasilianischer Musik – ob nun Samba, HipHop oder Hardcore – keineswegs nur ein Versuch, Stimmung zu schaffen, sondern auch ein gut genutztes Mittel, um über die Lyrics eine zweite Erzählebene aufzubauen und die verschiedenen „Szenen“ der Gesellschaft zu charakterisieren.

„Rua 6 Sem Número – 6. Straße, ohne Nummer“ Regie: João Batista de Andrade, mit Marco Ricco, Christine Fernandes u. a., Brasilien 2002, 103 Min.; „O Invasor – Der Eindringling“, Regie: Beto Brant, mit Paulo Miklos u. a., Brasilien 2001, 97 Min., Di., 8. 7., 21 Uhr, Mi., 9. 7., 19 Uhr; „Seja o que deus quiser – Que serah, serah“, Regie: Murilo Salles, Brasilien 2002, 90 Min., 20. 7., 19 Uhr, 22. 7., 21 Uhr; Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten