Ausdauer am Schreibtisch

Zielfahnder des Landeskriminalamtes heften sich an die Fersen von Schwerkriminellen – notfalls jahrelang und weltweit. Geschlossen wird eine Akte erst nach der Verhaftung

„Man muss sich in die Lage des Betroffenen versetzen. Was würde ich machen?“

Zwischen der Tat, die Van Diep D. zur Last gelegt wird, und dem Klicken der Handschellen lagen acht Jahre und mehrere hundert Kilometer. Im Auftrag einer Schutzgeldbande soll der 34-jährige Vietnamese 1996 gemeinsam mit zwei anderen Männern vor einem Supermarkt in Marzahn einen zahlungsunwilligen Zigarettenhändler regelrecht hingerichtet haben. Mitte Juni wurde „Loi Bo“, wie der mutmaßliche Killer genannt wird, in Warschau festgenommen. Aufgespürt hatten ihn dort Zielfahnder des Landeskriminalamtes.

Obwohl solche Kommandos vom Bundeskriminalamt bereits in den Siebzigerjahren zur Fahndung nach RAF-Terroristen eingesetzt wurden, ist die Zielfandung in Berlin noch eine relativ junge Einrichtung. Erst 1995 wurde probeweise ein Team mit vier Beamten aufgestellt. 1998 wurde es personell verstärkt und als festes Kommissariat eingerichtet. Zuvor war diese Art der Fahndung Polizeiführung und Innensenat zu kostenintensiv.

Unbelastet von der kriminalpolizeilichen Alltagsarbeit, konzentrieren sich die inzwischen neun Männer und eine Frau ausschließlich auf die intensive Fahndung nach Schwerkriminellen, die als besonders gefährlich gelten. Erst wenn der definitive Aufenthaltsort eines Gesuchten ermittelt ist, endet ihr Auftrag. Die Festnahme führen dann meist Spezialeinsatzkommandos durch – oder wie im Falle „Loi Bo“ die polnische Kripo.

„99 Prozent unserer Arbeit findet am Schreibtisch statt“, erklärt Kriminaloberrat Andreas Reinhardt, der Chef der Fahndungsinspektion. Wie bei jeder anderen Ermittlung auch beginnt diese damit, alle erreichbaren Informationen aus den Polizeidateien zusammenzutragen. Das allein reicht den Zielfahndern jedoch nicht. Für ein möglichst umfassendes Persönlichkeitsprofil des Gesuchten befragen sie auch Familienangehörige, Freunde und Freundinnen, frühere Arbeitskollegen oder eventuelle Mittäter. Alles, was ihnen helfen könnte, sich ein Bild von ihrer „Zielperson“ zu machen, interessiert die Fahnder: Welche sozialen Kontakte werden gepflegt? Welche finanziellen Möglichkeiten und persönlichen Verbindungen bestehen? Wie steht es mit Sprachkenntnissen? Gibt es ein besonderes Hobby oder sonstige Vorlieben? „Es geht darum, sich in die Lage des Betroffenen zu versetzen. Was würde ich in dieser Situation machen?“, erläutert Reinhardt das Vorgehen, „gerade bei Straftätern aus anderen ethnischen Gruppierungen ist das nicht ganz einfach.“

12 bis 20 Fälle pro Jahr bearbeiten die Zielfahnder, jedes der beiden Teams 2 bis 3 gleichzeitig. Wenn man erkennbar nicht weiterkomme, müsse man eine Akte zwischendurch auch einmal weglegen, sagt Reinhardt, „sonst verbiegen sich die Hirnwindungen“. Ganz zugeklappt wird sie jedoch erst, wenn der Gesuchte gefunden ist.

Einige Fälle lassen sich innerhalb weniger Monate erledigen. In der Regel jedoch dauert eine erfolgreiche Zielfahndung etwa zwei Jahre. „Loi Bo“ liegt somit erheblich über dem Durchschnitt, der „älteste Kunde“ ist er jedoch nicht. Den Fluchtrekord hält derzeit ein mehrfacher Mörder, der seine Taten 1992 begangen hat. Aber auch die Suche nach ihm werde in der nächsten Zeit zu Ende sein, erwartet Inspektionsleiter Reinhardt. Mehr möchte er hierzu nicht sagen.

Bei abgeschlossenen Fällen ist er auskunftsfreudiger. So wurde etwa der ehemalige Fremdenlegionär Andreas St., der im Sommer 2000 zunächst seine Freundin erschoss und dann bei einem Banküberfall beinahe noch einen zweiten Menschen getötet hätte, bei seiner Mutter in Schleswig-Holstein aufgespürt. Sozialverhalten und Familienbindungen sind für die Zielfahnder wichtige Ansatzpunkte. Spurlos unterzutauchen und alle Brücken hinter sich abzubrechen, weiß Reinhardt, „halten die meisten nicht aus“.

Eher ungewöhnlich war dagegen die Suche nach dem Filialleiter einer Berliner Sparkasse. Der Mann hatte sich im Herbst 2001 mit rund 3,2 Millionen Mark aus dem Safe abgesetzt. „Uns war klar, das ist kein typischer Krimineller, das war nicht sauber durchgeplant, der Mann hat einfach eine günstige Gelegenheit genutzt“, berichtet der Kriminaloberrat, „wir waren nicht mal sicher, ob wir den mit so viel Geld überhaupt noch lebend finden.“ Zunächst vermuteten ihn die Fahnder in der Karibik, doch die Spur erwies sich schnell als falsch. Schließlich spürten sie ihn als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle in Thüringen auf. Bei seiner Flucht war der begeisterte Motorradfan zunächst bei den „Hell’s Angels“ in Hamburg untergeschlüpft. Seine neuen Freunde hatten ihn in einem Häuschen in Dänemark untergebracht und davon „überzeugt“, sein Geld von ihnen „verwalten“ zu lassen. OTTO DIEDERICHS