BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Eine Statue namens Gertrud

Leerstelle (9): Den Spittelmarkt gibt es nur noch als Punkt der U 2. Doch Gertrud hat alle Bomben überlebt

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.

Was eine Leerstelle ist, sehen Sie auf dem Foto rechts. Nicht dass etwas fehlte, dass ein Platz noch zu besetzen wäre. Es ist – im Gegenteil – ja alles da, und fast ließe sich von Überfluss reden, wo nur ein einziges Objekt betrachtet werden soll mit dem Abstand, den Respekt verlangt.

Es ist alles da, was eine Statue an Freiheit braucht. In diesem Fall ein weiblicher Solitär in Lauchhammer-Bronze, Gertrud mit Namen. Zwischen 20 Stockwerken Plattenblöcken reckt sie sich nach Sonnenaufgang und reicht einem unbekannten Wanderer zu ihren Füßen einen trocknen Trunk. Das nehmen wir als gutes Zeichen. So soll sie stehen für die Heilige, die einem Hospital den Namen gab, das in der Nähe stand (bis 1871).

So soll sie stehen für die Äbtissin Gertrud gleichen Namens aus Brabant, überliefert als Beschützerin der Kranken, der Gefangenen, der Pilger, Witwen, Waisen, Feld- und Gartenfrüchte, gelistet als Patronin von Spitälern, als Heilige der Reisenden und Gärtner überdies. So soll sie heut noch stehen für Gebete, mit denen Menschen ungebetene Nachbarn vertreiben; so soll sie stehen für das Wohl einer Stadt, die alles verspielt hat. Wir haben nichts dagegen. „Ratten und Mäusegezücht / Machst du zunicht / Aber den Armen im Land / Reichst du die Hand.“

So steht es auf steinernem Sockel geschrieben. So legen Bauarbeiter vor Schicht Hand an sie, genau genommen an eine ihrer zu Gold gegriffenen Bronzeratten, die der Bildhauer Siemering um den Sockel geflochten hat im Maßstab 1:1. Vielleicht muss einer Katholik sein oder aus Polen, dass er an das Glück glaubt solchen Handgriffs; was er bewirkt, ist nicht erwiesen. Wer es tut, das ist zu sehen, sieht dabei nach oben, demütig ins Gesicht der Heiligen, die keine Miene verzieht. Ungerührt und ganz gelassen blickt sie auf den durchfensterten Spreekanal, der sich längs der Mauern eines U-Bahnhofs unter den Hochhäusern windet. Sie kann mehr Projektionen aushalten. Hier scheint sie für den zementierten Niedergang des Abendlandes selbst zu stehen, für urbane Visionen, abgelagert in Beton und Bauschutt.

Soll sie stehen für innere Einkehr und auswärts gerichtete Barmherzigkeit, mag sein; mag sein, sie meditiert über den Globus ihrem kupfernen Pendant im Hudson entgegen. Keinen Arm hat sie frei, zu grüßen, keine Fackel kann sie hochhalten, kein Schwert. Nur einen leeren Wasserkrug. Das passt. Die Demut kommt – uns mehr als ihr – zustatten. Einmal hat sie auf ein Viertel mit dem Namen Fischerkiez geblickt, auf Baugruben seit je. Die Bombardements hat sie überlebt an Ort und Stelle, nun steht sie immer noch da, museal und doppelt sinnbildlich. Wofür sie noch stehen könnte, das nimmt ihr die mit Halogen bestrahlte Hinweistafel ab: Hier wird für einen Bauherrn geworben. Der errichtet ihr ein Gegenüber, das der neogotischen Fassade (Gertraudenstraße 10–12) einen zeitgemäßen Widerpart vorblenden wird.

Das Wohlstand atmende Haus hat als einziges seiner Gründerzeit am Spittelmarkt überlebt. Dass es leer steht, weist auf Luxus, andererseits auf das Risiko hin, diesen erneut zu verbreiten. So steht sie für den Marktplatz, der sie umgeben hat mit Tuchhandel und viel Betrieb, mit Pogromen, Aufmärschen, Aufständen auch. Den Spittelmarkt gibt es nicht mehr als Platz, nur dem Namen nach im Stadtplan als einen Punkt der U-Bahn-Linie 2.

Nichts ficht sie an, nichts kann sie bewegen, ausgenommen Kranhaken oder ein sauber ausgeführtes Attentat. Das steht nicht zu befürchten, sie steht ja (auf den ersten Blick) für nichts Globales. Aber hinter sich, am Arm der Spree, hat sie das Amt für die Angelegenheiten des Äußeren. Sie hat mehr Projektionen ausgehalten, Geschichte hat sie ertragen wie die Witterung. Als Objekt wird sie den Subjekten der Geschichte ebenso gleich gewesen sein. Mit Ausnahme sozialistischer Stadtväter womöglich, die sie als bürgerliches Überbleibsel von Profitwirtschaft und frühchristlichem Aberglauben ansehen mochten.

Vielleicht war es so gesehen Rache, dass sie zusehen musste, wie der krumme Fischerkiez begradigt und begraben wurde unter Stahlgerüsten, in denen die Lebenden sich vermehren über den Toten im Urgrund der alten Stadt Cölln; ist es Rache für ihren Verbleib in der ostdeutschen Hauptstadt, dass sie zusehen muss, wie in den Funktionsbauten der gesamtdeutschen Hauptstadt an der Gertraudenstraße Ecke Fischerinsel Büromenschen den Vorgang verwalten für ihren Lohnerwerb und zum Nutzen der Statistik. Nur was uns anschaut, sehen wir. Bis wir uns umdrehen jedenfalls.

THOMAS MARTIN