Der den Sperling belauscht

Mit dem Hören an den Anfang zurückkehren: Der Musiker und Musikautor David Toop hat es versucht und las aus seinen Reisen in die Geschichte des Klangs im Hebbel am Ufer vor. Faszinierend und bizarr

VON TOBIAS RAPP

Man könnte es die Joachim-Ernst-Behrendt-Konstante nennen. Irgendwann im Laufe einer langen und verdienstvollen Musikkritikerkarriere kriegt die Schüssel einen Sprung. Jahrelang hat man gehört, gelauscht und die Ohren gespitzt auf der Suche nach neuen Tönen, jahrelang hat man auch selbst Musik produziert, hat Musiker betreut, ist über die Lande gezogen, um für die geschätzte Hörer- und Leserschaft neue musikalische Ansätze zu entdecken. Und auf einmal stellt man fest: Man mag keine Musik mehr. Nicht dass man einen bestimmten Musiker nicht mehr mögen würde oder ein bestimmtes Genre: Nein, Musik als Ganzes sagt einem nicht mehr zu. Vielleicht hat man einfach zu viel gehört. Weil man die Ohren aber nicht einfach schließen kann und das auch gar nicht möchte, ist dies der Augenblick, wo man dann feststellt: Es tönt auch ganz ohne Musik. „Die Welt ist Klang“ hieß das dann bei Joachim-Ernst Behrendt, und das hatte viel mit der Philosophie der Brahmanen zu tun. „Ocean Of Sound“ heißt es bei dem Engländer David Toop und ist von Esoterik vollkommen frei.

Eisige Einsamkeit umwehte Toop, als er am vergangenen Freitag sein neues Buch „Haunted Weather“ im Theater am Halleschen Ufer vorstellte. Ein älterer Herr mit leiser Stimme, ganz alleine auf einer großen Bühne, neben ihm ein kleines Mischpult. Die Klänge, die er diesem zur Begleitung seiner entlockte, hörten sich an wie ein Tinnitus-Piepen.

Toop ist nicht nur einer der renommiertesten Musikkritiker der Gegenwart, seit den frühen Siebzigern macht er auch Musik. Als Flötist bewegte er sich in der Londoner Free-Jazz-Szene, er spielte mit Brian Eno, und mit Prince Far I nahm er ein Dub-Album auf. Am bekanntesten allerdings ist er als Autor. Schon 1984 schrieb er „Rap Attack“, das bis heute beste Buch über HipHop. Und er veröffentlichte 1995 „Ocean Of Sound“, jenes Buch, mit dem er die Reise begann, an der für einen Abend teilzunehmen man ins Theater am Halleschen Ufer gekommen war.

Assoziativ verknüpft las Toop Anekdoten und Gedanken vor. Wie er in seinem Garten sitzt und den Sperlingen zuhört, deren Gesang sich anhört wie Free Jazz. Dass ja auch das Rufen der Vögel in dem gleichnamigen Hitchcock-Film einem Synthesizer entstammte, dem Mixturtrautonium von Oskar Sala nämlich. Wie er einmal Björk traf und diese ihm erzählte, dass sie zum Glücklichsein nur das Geräusch von Booten im Wasser brauche, weil ihr Vater sie als Kind immer mit zum Hafen genommen habe. Wie er Freunde über die Klänge ihrer Kindheit ausfragt. Und wie beschränkt das westliche Denken in Bezug auf Klänge ist, weil wir nur denken können, „die Glocke klingt“, aber nicht „der Klang glockt“.

Das war gleichzeitig faszinierend und bizarr. Hätte man nicht gewusst, dass es der Tod seiner Frau war, der Toop vor einigen Jahren aus der Bahn warf und ihn bei null neu anfangen ließ, beim Geräusch – zwischen all diesen aneinander gereihten Orten und ihren dazugehörigen Geräuschen wäre man sich auch einigermaßen verloren vorkommen können. Denn zusammengehalten wurden all diese Geschichten und Gedanken lediglich vom Ich des Autors, nicht von irgendeiner Argumentation. Aber das folgte wiederum seiner eigenen Logik: Denn hat nicht jeder seine eigene Hörbiografie, die schlussendlich vielleicht analysierbar, aber nicht synthetisierbar ist?

Langusten jedenfalls, die man mit einer Schildkröte in ein normales Aquarium einsperrt, werden innerhalb kürzester Frist gefressen. Montiert man jedoch Unterwasserlautsprecher in das Aquarium und lässt einen Blubbersound laufen, können sie entkommen. Sie orientieren sich anhand der Klangwellen. Stille kann also tödlich sein. Vielleicht baut sich deshalb jeder aus Klängen seine eigene Überlebensstrategie.