Werder beginnt bei null

Der deutsche Meister besiegt Alemannia Aachen 3:2 und wird dadurch auch deutscher Pokalsieger. In Bremen wird das nun zwei bis drei Wochen gefeiert, dann gilt der Blick der nächsten Saison

AUS BERLIN FRANK KETTERER

Wenn man dereinst zurückdenken wird an das 61. Finale um den Pokal des Deutschen Fußball-Bundes, wird einem ganz bestimmt auch diese Szene in Erinnerung kommen: Wie das Spiel aus ist und diese große, grüne Wand im Stadion fordert, den Trainer zu sehen, vehement und lautstark. Wie der Mann im grauen Kapuzenpulli hinüberschlendert in die Kurve, ganz gemächlich und als würde er jeden einzelnen Schritt genießen. Wie er sich hinstellt vor diese steile Menschenwand, einen Augenblick verharrt, schließlich leicht in die Knie geht, um sogleich die Arme in die Höhe zu werfen, einmal, zweimal, dreimal. Und wie jene, die ihn so lautstark gefordert haben, ein paar tausend sind es ganz sicher, es ihm gleich tun, ein, zwei, drei, sogar ein viertes Mal. Wie ein großer Dirigent sah Thomas Schaaf in diesem Augenblick des vollkommenen Glücks aus, und dass ihm das Publikum mit derartigen Ovationen huldigte, hatte natürlich mit der Größe der Aufführung zu tun, die der sonst so zurückhaltende Maestro hatte bieten lassen, eine ganze Spielzeit lang. Zu Meistern hatte Schaaf die Fußballer aus Bremen gemacht, nun auch noch zu Pokalsiegern. Und zusammengefasst hat er das noch am gleichen Abend so: „Das Double ist ja nichts Alltägliches – und deshalb ist das auch was Besonderes für uns.“

Solche Sätze sagt Schaaf, ein Typ trockener als die Sahara, andauernd, Schaafismen nennt man sie mittlerweile. Der Wahrheit entsprechen diese kleinen Fußball-Sinnsprüche übrigens meistens, auch in diesem Fall: Werder ist tatsächlich erst der vierte deutsche Klub, dem das Kunststück gelang, Meisterschaft und Pokal innerhalb einer Saison zu gewinnen, und dass dieses nun ausgerechnet im Berliner Olympiastadion vollendet wurde, ist eine hübsche Randnotiz, die auch Schaaf nicht zu erwähnen vergaß: „In Berlin hat ein wunderschönes Jahr für uns begonnen“ – mit einem 3:0-Sieg über Hertha zum Bundesligaauftakt nämlich. „Und nun haben wir in Berlin ein wunderbares Jahr mit dem Pokalsieg beendet“ – mit dem 3:2-Sieg über Alemannia Aachen.

Irgendwie hat sich da ein Kreis geschlossen für Werder, und dass der letzte Vorhang nicht die ganz große Qualität hatte, mit der die Bremer über weite Strecken der Saison die Fußballnation begeistern konnten, ist durchaus verständlich und wurde am besten von Valérien Ismael in Worte gepackt. „Im Hinterkopf wussten wir ja schon, dass wir den Pokal gewinnen“, sagte die französische Defensivkraft nach dem Pokaltriumph, schließlich ging es gegen Zweitligist Aachen um nichts anderes als einen: Pflichtsieg. Dass sich Alemannia gegen dies vorgezeichnete Schicksal nach besten Kräften und durchaus tapfer wehrte, die Partie nach 0:2-Rückstand – Borowski (31.) und Klasnic (45.) waren die Torschützen – durch den Anschlusstreffer von Blank (51.) zwischenzeitlich sogar noch mal „auf die Kippe“ stellen konnten, wie Aachens Willi Landgraf anmerkte, mag gut für die Spannung gewesen sein. Mehr aber war es nicht, wie spätestens das 3:1 (84.) erneut durch den ebenso jungen wie abgeklärt agierenden Tim Borowski bewies. Im Prinzip, dieses Eindrucks konnte man sich nicht erwehren, hatte Werder die seit dem Gewinn der Meisterschaft vor 14 Tagen andauernden Feierlichkeiten nur für die Dauer eines Endspiels unterbrochen, um a.) ein bisschen Spaß auf dem Platz, und b.) hernach doppelten Grund zum Weiterfeiern zu haben.

Auf zwei bis drei Wochen taxierte Frank Baumann denn auch die anzunehmende Fortdauer der Bremer Festwochen, danach, so der Mannschaftskapitän, müsse man den Blick in die Zukunft richten – und somit auf die nächste Saison. „Da geht’s wieder bei null los“, stellte Baumann fest – und für Werder könnte das durchaus zu einem Problem werden. Mit Ailton und Krstajic gehen dem SVW bekannterweise nicht nur zwei Leistungsträger, sondern auch noch das Maskottchen von der Stange; ob der Bochumer Frank Fahrenhorst und der Lauterer Miroslav Klose diese ersetzen können, bleibt abzuwarten, muss aber zumindest in letzterem Fall bezweifelt werden. Hinzu kommt, dass der Kader kaum groß genug scheint, um die Dreifachbelastung aus Champions League, nationaler Meisterschaft und Pokal schadlos überstehen zu können. Verbunden mit den Erwartungen, die auch in Bremen nach einer historischen Tat wie dem Double steigen, ergibt das eine brisante Mischung. „Ich bin total verzweifelt. Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll“, sagte am späten Samstagabend Klaus Allofs, der Werder-Manager. Das war in der Stunde des Sieges spaßig gemeint, könnte aber noch ernst werden.

So ernst, wie es auf Aachener Seite bereits ist, allerdings kaum. Aufstieg vergeigt, Pokalfinale verloren, zudem eine ziemlich unnötige Debatte um Kapitän Kalla Pflipsen losgetreten – schon jetzt hat die Saison einen bitteren Nachgeschmack, auch die Uefa-Cup-Teilnahme in der nächsten Spielzeit ändert daran nichts mehr. Vor allem der Fall Pflipsen „wirft einen Schatten auf die Saison“, wie nicht nur Torschütze Blank anmerkte. Und im Zentrum dieses Schattens steht ausgerechnet der stets sonnengebräunte Trainer Jörg Berger, der den Kapitän ausgemustert haben möchte – und die selbst produzierte Affäre nun ganz offensichtlich dazu verwendet, nach drei Jahren auf dem Tivoli die eigene Flucht einzuleiten. „Es war eine schöne Zeit“, sagte der 59-Jährige am Samstagabend, so als sei der Abschied bereits besiegelt. Und wie immer, wenn Berger einen Verein verließ oder verlassen musste, wird sie auch diesmal im Missklang enden.